laut.de-Kritik
Mit Baseballschlägern gegen die inneren Dämonen.
Review von Manuel BergerMehrere Prognosen gaben Slipknot vor Release ihres sechsten Albums ab. Gitarrist und Hauptsongwriter Jim Root wollte "von vorn bis hinten ein Album-Erlebnis erschaffen", der Sound früherer Platten solle zurückkehren, und laut Shawn Crahan wirkte sich auch die investierte Zeit, so viel wie nie zuvor, auf das Ergebnis aus. "Fast vier Jahre, um diese Emotion und Temperatur entstehen zu lassen, und der Lohn ist nicht weniger als Erlösung", meint der Clown. Alle drei Punkte erfüllt die Band.
"We Are Not Your Kind" ist das bisher facettenreichste Werk der Maskentruppe aus Iowa. Die von Root angedeutete Klangreise führt Slipknot zurück zu korrodierender Aggression der Tage von und vor "Vol. 3: (The Subliminal Verses)" – etwa mit "Birth Of The Cruel", wo DJ Sid Wilson sich mit Scratching und Noise-Spielereien durchs Percussion-Gewitter frisst, und dem frenetischen "Orphan", in dem Drummer Jay Weinberg am Doublebass-Pedal ausrastet und typisches Mülltonnenkloppen sowie mechanisches Highspeed-Klackern schmerzhaft durch den Mix schneiden.
Angesichts der Trips in die rohe Vergangenheit der Band unerwartet kommt "Spiders". Hier betreten Slipknot völliges Neuland. Im 7/8-Takt rotiert beklemmend ein jazziges, leicht an Mike Oldfields "Tubular Bells" (besser bekannt als das "The Exorcist"-Theme) erinnerndes Klaviermotiv, Handclaps sorgen für stampfenden Groove, obendrauf liegt ein experimentelles Gitarrensolo. Im imaginären Kurzfilm dazu säße Corey Taylor als Psychopath in einer Anstalt, fantasierend, wie Spinnentiere Nacht für Nacht durch seine Zelle marschieren. Er singt ihnen einen Auszählreim: "The spiders come in side by side / Two by two and night by night / Who is food and who is thrown away?"
Um die Transition zu diesem im Slipknot-Katalog ungewöhnlichen Song flüssiger zu gestalten, steht vor "Spiders" das kurze Interlude "What's Next". Im Titel vielleicht ein augenzwinkernder Hinweis auf eine mögliche unmetallische Zukunft der Band? Die unheilvolle Grundstimmung bliebe jedenfalls intakt.
Insgesamt vier solcher Interludes gibt es auf "We Are Not Your Kind", in allen flechten Slipknot zerbrechliche Melodien in destruktive Noise-Ambience. Das letzte seiner Art, "My Pain", erstreckt sich über fast sieben Minuten und kombiniert die Elemente der drei vorhergehenden. So entsteht ein aufregender Klangmix aus viel Elektronik, Glockenspiel, Drum Machine, zerstreuter Percussion, bedrohlichen Synthesizer-Schüben und mittendrin Corey Taylor. Der rezitiert wie zuvor im deutlich kürzeren "Death Because Of Death" befremdlich gleichgültig seinen Text und intensiviert die Unruhe so noch.
Es wäre der perfekte Abschluss für die Platte gewesen. Leider zerschießen Slipknot den atmosphärischen Höhepunkt mit "Not Long For This World", das größtenteils als frühe Stone Sour-B-Seite durchgehen könnte, und "Solway Firth", das wegen aufputschender Drum- und Vocalparts deutlich besser als Opener denn als Closer funktioniert hätte. Am Ende wirkt es etwas fehl am Platz. Die generischen Thrash-Riffs und eine plakative Alarmsirene verstärken den schalen Geschmack zum Abschluss noch. Immerhin liefern Jay Weinberg und vor allem Corey Taylor auch hier erstklassig ab.
Überhaupt ist "We Are Not Your Kind" noch stimmzentrierter als seine Vorgänger. Taylor bleibt Slipknots stärkste Waffe. Der neue Facettenreichtum ist maßgeblich ihm geschuldet. Bei "Unsainted" harmoniert er in ungewöhnlicher Manier mit einem Kirchenchor: Einerseits ergänzen sich die beiden Parteien melodisch, andererseits reiben sie sich bewusst aneinander. Das hat man so von der Band noch nicht gehört.
Die Steigerung von ruhigen Tönen zur monströsen Klimax wie in "Liar's Funeral" schon. Dank Taylors variablem Organ und verschlungenen Melodieriffs gerät aber auch diese Slipknot-Halbballade zu einem Albumhighlight. Bei "Nero Forte" reizt Taylor sein Stimmvolumen aus und switcht zwischen brutalsten Shouts und süßlich-hoher Pop-Hook. Hier und im anschließenden "Critical Darling" spittet er fast so räudig wie einst auf "Iowa".
Der Wutpegel ist angesichts diverser Ereignisse seit dem Vorgänger ".5: The Gray Chapter" kein Wunder. Taylors Ehe zerbrach, Gitarrist Mick Thompson wurde von seinem Bruder niedergestochen, Percussionist Chris Fehn schied aus der Band, zuletzt verlor Shawn Crahan seine 22-jährige Tochter infolge einer Überdosis. Als letzterer Todesfall passierte, waren die Arbeiten am Album zwar vermutlich bereits abgeschlossen, doch sicher auch deshalb sprach Crahan, wie eingangs erwähnt, von "Erlösung".
Nicht nur für die Musiker ist "We Are Not Your Kind" ein kathartisches Erlebnis, sondern für jeden, der der Aufforderung des Intros "Insert Coin" folgt und eine Münze in den Albtraumautomaten Slipknot wirft. Mit den Worten "I'm counting all the killers" zieht Corey Taylor die Hörer hinab in ein Labyrinth aus negativen Emotionen und spuckt sie nach gut einer Stunde mit den selben wieder aus. In der Zwischenzeit prügeln die neun Vermummten sämtliche inneren Dämonen mit ihren Baseballschlägern gründlich durch. Wunderheiler sind sie nicht, aber sie bieten ein Exil. Dieses klingt und erscheint zwar heute anders als vor 20 Jahren auf "Slipknot", verfügt aber über die gleichen Grundfesten und erfüllt seinen Zweck noch immer exzellent.
13 Kommentare mit 27 Antworten
Man kann gut mit dieser Scheibe leben. Gefällt mir deutlich besser als The Grey Chapter, dessen Kauf ich bis heute verweigert habe. Es ist ein schöner Mix aus den bekannten Trademarks.
Ich würde im Nachhinein gern den Kauf von All Hope Is Gone verweigern. Aber The Grey Chapter fand ich eigentlich ganz gut. Das könnte aber auch daran liegen, dass ich nach dem unsäglichen All Hope Is Gone wirklich mit dem Schlimmsten gerechnet habe.
Finde als langjähriger Fan auch, AHIG war eher so mäßig. Auf Gray Chapter war dann vieles neu und musste sich erst einrenken. WANYK ist jetzt mit Anlauf ein richtig starker Mix aus alter Power und Mut zu Neuem, ohne sich selbst zu verlieren. Bin sehr glücklich mit dem Album!
Dito. All Hope is Gone war eine Beleidigung für jeden richtigen Fan. The Grey Chapter hat mich extrem überrascht, hätte nicht gedacht, dass die sowas nochmal machen.
So gesehen hätte "The Grey Chapter" eigentlich "All Hope Is Doch Nich' Gone" heißen müssen.
@Vurst: Immer diese Spinner...
Heißt es ja sogar ein bisschen - Aufbruch als Message, mit Hommage an den verstorbenen Paul Gray im Titel. Nicht fallen lassen, erstmal durchs graue Kapitel dreschen und dann sind wir wieder standesgemäß not your kind
Dieser Kommentar wurde vor 5 Jahren durch den Autor entfernt.
@bananafishbone heul doch
The Grey Chapter habe ich einmal gehört und danach nie wieder angefasst. Diesem gebe ich aber eine Chance, da Slipknot mich bis All Hope is gone trotz wechsendem Stil überzeugen konnten.
Klöppelt gut rein das Ding.
Das Album ist definitiv ein Fortschritt zu TGC, zumal bei einigen Songs wie „Critical Darling“ oder „Nero Forte“ bereits schon damals gut funktionierende Muster (siehe „Nomadic“, „The One That Kills The Least“ oder „Killpop“) aufgegriffen werden, die Songs aber gleichzeitig etwas geschmeidiger wirken.
Was die Diskussion um Solway Firth angeht, schließe ich mich ganz GOffensive an.
Etwas schade finde ich aber die neue „Krankheit“ zwanghaft Interludes hineinzupacken. Soll es auf dem ersten Blick so aussehen, als wären wirklich 14 Songs zustande gekommen, die es auf ein Album schaffen können? Oder ist es wirklich ein künstlerischer Aspekt, um durch ein sogenanntes Konzept-Album zu „leiten“?
Keine Frage – nicht immer sind Interludes überflüssig (das Intro auf TGC ist ein sehr positives Beispiel).
Ich finde außerdem, dass „My Pain“ etwas ungelenk wirkt, obwohl es Potenzial hat, den „ist es jetzt ein langes Interlude oder ein Song in einem Interlude“-Rahmen zu durchbrechen.
Statt der hier drei bzw. vier platzierten Interludes hätte ich mir lieber einen 5-minütigen extra Song gewünscht.
Auch „All out Life“ hätte meinem Wunsch diesbezüglich entsprochen. Daher „nur“ 4/5.
Mehr als 2 Lieder am Stück kann ich mir bei dem Album absolut nicht geben.
Ich als Gelegenheitsmetaler und Genusshörer empfinde das Album als Geniestreich und seit IOWA ihr bestes