laut.de-Kritik
Bedeutende Aufnahmen aus der Kreidezeit des Rock.
Review von Ulf KubankeMit beachtlicher Genauigkeit halten die Rolling Stones bereits seit einiger Zeit ihr Wirken on stage für die Nachwelt fest. Nahezu jede wichtige Tour seit den frühen 70ern ist mittlerweile als Tondokument erhältlich. "On Air" fügt dem Katalog der Glimmer Twins ein historisch höchst bedeutendes Kapitel hinzu.
Das Gebotene kann man ohne Übertreibung als musikarchäologische Sensation bezeichnen. Zwar buddelt man hier nicht Ramses aus, dafür jedoch fast genau so alte Aufnahmen aus der Kreidezeit des Rock. Das Material besteht ausschließlich aus Radio- und TV-Mitschnitten, live im jeweiligen Studio, aus den Jahren zwischen 1963 und 1965.
Das erscheint in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert. Zum einen bietet sich hier ein toller Einblick in jene Gründerzeit des Rock mit all ihrer befreienden Wucht eines neuen Lebensgefühls. Zum anderen spielten die Stones in den Kindertagen der Band live gern Songs, die weder vorher noch nachher den Weg auf eine Plattenpressung fanden. Somit gibt es hier bezüglich ganzer acht Titel erstmals überhaupt die Möglichkeit, sie zu hören, sofern man nicht bereits vor einem halben Jahrhundert vor Musiktruhe oder Bildschirmgerät saß.
Das kommt nicht von ungefähr. BBC, Saturday Club und Co. drängten die damals noch blutjungen Youngster vehement, besonders ihre erfolgreichen Singles zu bringen. Dabei muss man sich vor Augen halten, wie dünn gesät die Medienlandschaft damals war. Besonders viele Chancen zur Verbreitung gab es nicht, und die wenigen Anlaufstellen funkten meist unter dem Dach eher konservativ ausgerichteter Sender.
Hinzu kommt, dass Mick Jagger, Keith Richards, Brian Jones, Bill Wyman und last but not least Charlie Watts noch längst nicht die Ikonen waren, die man heute zu Recht als größte Rockband aller Zeiten bezeichnet. Statt ihnen zu Füßen liegender Arenen stand noch die Ochsentour an, mit ihren kleinen, verrauchten Bluesclubs und den 'Tanzveranstaltungen für junge Leute' in umarrangierten Schulsporthallen.
Genau diese wenig glamouröse Zeit des Aufbruchs hat die Stones als Band geschliffen, ohne ihren Sound zu glätten. Kein Wunder, dass Mick und Co. auch mit dem dort präsentierten, sehr rohen Material eine dicke Lippe riskieren wollten. So schmuggelten sie unter anderem etliche derbe Interpretationen ihrer Vorbilder aus Rock'n'Roll und Blues auf die Setlisten der Sender, hierunter Stücke von Buster Brown, Tommy Tucker oder Bo Diddley.
Besonders Chuck Berry nehmen sie regelmäßig ordentlich in die Mangel und verpassen hier "Roll Over Beethoven", "Memphis, Tennessee" sowie "Beautiful Delilah" ein rotzig-modernes Gewand aus Rebellentum, in Pose wie subversiver Authentizität gleichermaßen.
Letzteres zeigen sie vor allem in der alles überragenden und ultimativen Version von "(I Can't Get No) Satisfaction". Nur wenige Monate nachdem Keith in Halbschlaf und Vollrausch das legendäre Riff erfand, spielen sie im Saturday Club am 18. September 1965 eine der ersten Livefassungen überhaupt ein. Hier hört man alle sexuelle Frustration der etablierten (nicht nur) britischen Gesellschaft heraus, deren Triebstau (nicht nur) damals im Kaufrausch totaler Kommerzialisierung ebenso sublimiert wie substituiert wurde.
Richards Gitarre kommt wesentlich schneidiger rüber als auf der Single. Jaggers Gesang pendelt schon damals mit der Grandezza des geborenen Frontmanns zwischen perfekt gespieltem Entertainment und und ehrlicher, aufstachelnder Angepisstheit. Genau diese unnachahmliche Mischung aus grober Garagenkombo und sich bereits regender Schauspielkunst macht die Stones bis heute aus und schlägt mit diesen Aufnahmen auch gekonnt den Bogen zum tollen Spätwerk "Blue & Lonesome".
1 Kommentar mit 8 Antworten
man muss einfach sich klar machen, dass Jagger irgendwann Anfang der 70er angefangen hat live saumäßig zu singen und das als Markenzeichen nach außen trägt.
sehe ich anders. das ist doch wirklich ein allgemeinplatz, der durch stetige wiederholung kaum wahrer wird.
gerade ab jenem zeitpunkt, in dem die stones begannen, sich neben blues und rock auch dem groove von funk & soul zu öffnen, ist der gesang weit kompletter geworden.
Hat sich Jagger nicht einen Teil der Zunge abgebissen? Eventuell Ende der 60er bzw. Anfang der 70er?
Jedenfalls pack Jagger, ob damals mit Mitte 20 oder heute mit Mitte 70, in eine Menge von sagen wir mal 100 begabten Sängern! Ich wette du hörst ihn raus, jeder hört in raus, mit Sicherheit.
So viel Alleinstellungsmerkmal wie die Stimme von Jagger hat, kann man nicht ernsthaft kritisieren.
Deinen Schreibstil kann man auch unter Hunderten herauslesen. Das macht ihn nicht immun gegenüber Kritik. Was soll das schon wieder für ne Meurerlogik sein?
Natürlich hat er wie Plant, Gillan, Bon Scott, Ozzy,.... eien relevante und einzigartige Stimme; aber wem nicht auffällt wie sauber und gut Jagger bei diesen alten Aufnahmen singt, der kann sich direkt danach mal die Still Live als Kontrastprogramm anhören und verstehen was ich meine.
Na die Logik, man hat entweder Stil oder man bleibt unbedeutend für die Musik.
Die 82er Still Live, war zwischen Tattoo You (wo sich immerhin MS 150 Millionen Dollar die Rechte an Start Me Up kosten lies, um Windoof 95 zu promoten) und Undercover (immerhin der Einstieg für meine Generation in die Stones und kommerziell die Rettung dieser Band). Man kann ruhig sagen, irgendwie hat Speedi die Stones (mit-) gerettet.
doc,
die "still life" ist in der tat kein ruhmesblatt. sie taugt aber kaum zur verallgemeinerung. zum einen gibt es von der tour zahlreiche mittschnitte, die eine bessere form zeigen. zum anderen war der gesang vorher wie nachher doch meist unangreifbar.
denn sowas wie "miss you" oder "emotonal rescue" muss man ja auch erstmal reißen. das ist ja schon ne ecker schwerer zu bringen als "come on" oder "satisfaction".
insofern glaube ich, deine these funktioniert nur punktuell, nicht flächendeckend.
unangreifbar saumäßig;-) meist gebrauchter Laut: "Yöah". Gerade die zu der Zeit herausgebrachte TattooYou offenbarte den Unterschied sehr deutlich. Aber auch zum Beispiel Shine a Light war eher bescheiden, was aber mit den beiden Gitarrenarbeitern zu tun hatte- denn die verspielten sich zu der Zeit dauernd, was wirklich nervte. Dazu dann der Gesang.
Wobei ich eingestehen muss, dass seit 3-5 Jahren Gesang, Gitarre und insgesamt die musikalische Darbietung deutlich besser wurde.
Gerade das nervte eben nicht! War doch genial. Habe unzählige 70ér Gigs auf Vhs und es macht einfach Spaß,ihnen beim SPIELEN zuzusehen,oft gegeneinander.Grinsen sich an,egal weiter gehts.Um Längen besser als heutzutage,das ist eben nicht mehr live,wenn ein Halbplayback läuft,mann könnte ja ausm Takt kommen.Ich finde Perfektion live ziemlichlich arm,dann brauch ich nicht aufs Konzert gehen,sondern kann zu Haus die Platte hören.
Und Jagger is halt Jagger.Wenn man´s nicht mag, ok. Aber `saumäßig`is ja wohl mal vollkommen übertrieben!!
Naja, davon ab find ich `On Air `sehr gut. Tolle Sachen drauf, die ich noch nie gehört habe.