laut.de-Kritik

Der coolste Reißverschluss aller Zeiten.

Review von

New York, Herbst 1993. Am Broadway nördlich vom Greenwich Village befindet sich ein leer stehendes Grundstück, in einen Parkplatz umfunktioniert, auf dem samstags ein Flohmarkt stattfindet. An der Straße steht ein Dieb, der versucht, eine gestohlene Kamera an den Mann zu bringen. Die Stände hinter ihm bieten den üblichen Kram an, stapelweise alte Magazine, zerfledderte Bücher, ausgelatschte Schuhe. Einer hat Tausende Schallplatten im Angebot, in Kisten gepackt, alphabetisch sortiert.

Es ist die Hochzeit der Compact Disc. MP3 ist noch ein Begriff für Computernerds, bezahlbare Kopiermöglichkeiten außer der guten alten Kassette gibt es keine. LPs gelten als total uncool und sind zur Ramschware verkommen. Entsprechend steht auf einem Pappschild: "Each record 3 $".

Bruce Springsteens Bühnen-Feuerwerk "Live 1975-85" lächelt mich an. Eine Box mit fünf LPs, die nach kurzer Inspektion offenbar noch nie abgespielt wurden. "Make it five Dollars", meint der Verkäufer. Ein Glücksgriff, auf den gleich ein weiterer folgt. Denn unter "R" steht ganz vorne "Sticky Fingers". US-Originalausgabe samt Reißverschluss. Mit deutlichen Gebrauchsspuren, aber mindestens das zehnfache der 3 Dollar wert, die ich dafür hinblättere. Als ich sie zu Springsteen in die Plastiktüte stecke, muss ich aufpassen, The Boss' Antlitz nicht mit dem Reißverschluss zu verkratzen. Als ich sie andersrum reinstecke, reiße ich die Tüte auf.

So geht es einigen, die die Platte 1971 kaufen. Es soll auch Läden gegeben haben, die sie gar nicht erst ins Sortiment genommen haben, aus Furcht vor Beschädigungen. Verantwortlich dafür ist Andy Warhol, der 1967 die ikonenhafte Banane auf das Cover von Velvet Undergrounds Debüt platzierte. Zwei Jahre später erhält er einen Auftrag von Mick Jagger. "In my short, sweet experience, the more complicated the format of the album, e.g. more complex than just pages or fold-out, the more fucked up the reproduction and agonising the delays", erklärt der Sänger 1969 in einem Brief.

Daraus geht hervor, dass das Cover ursprünglich für ein Best Of-Album vorgesehen ist, doch es kommt anders. 1970 trennen sich die Stones von Management und Label und nehmen das Zepter selbst in die Hand. In erster Linie Jagger, der nicht zufällig Warhol im selben Brief auffordert, ihm seinen Preis zu nennen. Parallel gibt der geschäftstüchtige Frontmann auch ein Logo in Auftrag, das die Stones auch ohne Schriftzüge erkennbar machen soll. Das Ergebnis ist der Mund mit der ausgestreckten Zunge, der seitdem von jedem T-Shirt der Band prangt.

Warhol nimmt die Vorgaben zum Anlass, seine künstlerischen Freiheiten auszudehnen. Der Reißverschluss entwickelt sich bei Cover-Herstellung und Albumvertrieb zum Albtraum. Das sich deutlich abzeichnende Geschlechtsorgan sorgt für einen handfesten Skandal, wobei sich unter dem Reißverschluss, der sich ja öffnen lässt, eine züchtige weiße Unterhose verbirgt. Bald verschwindet sie ebenso wie der echte Reißverschluss, denn spätere Pressungen sind nur noch mit einem schnöden Foto des Kunstwerkes versehen.

Ihr vermutlich bestes Album haben die Rolling Stones 1968 mit "Beggar's Banquet" abgeliefert, ihr vielseitigstes folgt ein Jahr später mit "Exile On Main Street". Doch auch "Sticky Fingers" ist ein grundlegendes Album, ist es doch das erste mit Mick Taylor als Vollmitglied und auch das erste ohne Beiträge des verstorbenen Brian Jones. Musikalisch pendelt es zwischen dem Blues der 60er Jahre und den Drogenexzessen, die bald folgen.

Die wirken offenbar noch nicht so bedrohlich, wie sie sich später auswirken sollten. Der Opener "Brown Sugar" ist nichts anders als ein Lobgesang auf Sex in verschiedenen Ausprägungen - und Heroin. Der Refrain "Brown sugar, how come you taste so good / Brown sugar, just like a young girl should" ist Jagger in späteren Jahren so peinlich, dass er aus dem Mädchen einen Jungen macht. Die Stelle mit dem Auspeitschen seiner Geliebten streicht er ganz. Trotzdem bleibt er einer der besten Songs der Stones, zumal Richards hier eines seiner knackigsten Riffs abliefert.

Mit dem folgenden "Sway" feiert Mick Taylor einen gelungenen Einstand. Nicht nur schreibt er den Song (obwohl er offiziell von Jagger/Richards stammt), sondern steuert auch die Soli in der Mitte und zum Schluss bei. Eigentlich handelt es sich um eine langsame Blues-Nummer, die mit Streichern und Nicky Hopkins am Piano angereichert ist. Es ist eines jener Stücke auf dem Album, die scheinbar einfach aufgebaut sind, bei genauem Hinhören jedoch vielschichtig ausfallen.

Die Credits erwähnen, dass die Abmischung der Aufnahmen "zwei Millionen Stunden" gedauert habe. Auf einer Demo-Version von "Brown Sugar" war etwa Eric Clapton beteiligt, der in der Endversion aber nicht mehr zu hören ist. Zu "Wild Horses" bleibt nicht viel zu sagen – außer, dass es das "Let It Be" der Rolling Stones ist und damit bei jeder Tour Feuerzeugherstellern einen zweistelligen Umsatzzuwachs beschert.

Viel interessanter fällt "Can't You Hear Me Knocking" aus, das mit über sieben Minuten längste Stück des Album. Zunächst geprägt von Richards' wie immer leicht scheppernder Gitarre, übernimmt nach einem Drittel Bobby Keyes am Saxophon, bevor Taylor das letzte Drittel schultert. Der Beweis, dass die Stones auch durchaus hörenswert jammen konnten. Dass ihnen auch der traditionelle Blues lag, zeigen sie mit dem Traditional "You Gotta Move", der mit einem jaulenden Jagger besticht und den Slide-Gitarren von Taylor und Richards, die sich bestens ergänzen.

Eine Vielseitigkeit, die sich auf der zweiten Seite des Albums fortsetzt. "Bitch" steht zwar im Schatten von "Brown Sugar", ist vom Groove her aber ebenbürtig. "I Got The Blues" fällt mit seiner sehr einfach gezupften Gitarre eine Spur zu schnulzig aus, hebt aber das folgende "Sister Morphine" umso mehr hervor. Ein Überbleibsel aus den Aufnahmen zu "Let It Bleed" (1969) und eine Co-Arbeit mit Marianne Faithfull, die den Text geschrieben hat.

"Please, Sister Morphine, turn my nightmares into dreams / Oh, can't you see I'm fading fast? / And that this shot will be my last" fleht ein Süchtiger. "Oh, I can't crawl across the floor / Ah, can't you see, Sister Morphine, I'm trying to score". Eines der Drogen-Lieder schlechthin. Mit einer grandiosen Slide-Gitarre, die übrigens nicht von Mick Taylor stammt, sondern von Ry Cooder.

Auf "Dead Flowers" ist der Einfluss von Richards' Kumpel Gram Parsons, der zwei Jahre später an seiner Heroin-Sucht sterben sollte, deutlich herauszuhören. Zwar galt der Song mit seinem Country-Rock lange als B-Ware, doch die sarkastischen Lyrics ("You can send me dead flowers every morning / Send me dead flowers by the mail / Send me dead flowers to my wedding / And I won't forget to put roses on your grave") machen es zu einem der besseren der Band.

Die abschließende Ballade "Moonlight Mile" kommt ohne Richards aus, bietet dafür Streicher und einen seltenen Einblick in Mick Jaggers' Innenleben. "The sound of strangers sending nothing to my mind / Just another mad mad day on the road / I am just living to be lying by your side / But I'm just about a moonlight mile on down the road", jammert er. Herr Jagger hat den Blues - diesmal offenbar wirklich.

Die LP verschenkte ich ein paar Jahre später an einen Kumpel, der ein großer Rolling Stones-Fan war und Tränen in den Augen hatte, als er sie in den Händen hielt. Seitdem begnüge ich mich mit einer Limited Edition CD-Version, die ich in einem Second-Hand-Plattenladen in Paris aufgestöbert habe. Nicht ebenbürtig, aber in seinem Plastikkäfig kann der Reißverschluss wenigstens keinen Schaden anrichten. Das Kratzen der Nadel in den Rillen fehlt mir. Die Musik an sich aber bleibt zeitlos.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Brown Sugar
  2. 2. Sway
  3. 3. Wild Horses
  4. 4. Can't You Hear Me Knocking
  5. 5. You Gotta Move
  6. 6. Bitch
  7. 7. I Got The Blues
  8. 8. Sister Morphine
  9. 9. Dead Flowers
  10. 10. Moonlight Mile

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21 Kommentare mit 6 Antworten

  • Vor 11 Jahren

    Was hat 20 Zaehne und verbirgt ein Monster?
    Mein Reißverschluss.

  • Vor 11 Jahren

    Es gibt keine einzige Platte der Stones, die nicht zur Hälfte aus Füllermaterial besteht. Hätten sie mal halb so viele Alben gemacht, könnte eines ihrer Alben vielleicht tatsächlich ein Meilenstein sein - auch wenn die Band seit jeher alles andere als innovativ oder musikalisch spannend war. Manchmal will ich aber auch nicht staunen, emotional ergriffen sein oder abrocken, sondern einfach mal nett mit dem Fuß mitwippen. Dafür taugt die Band doch allemal und deswegen kann ich die Band auch nicht ganz so sehr schmähen wie ich es gerne würde ;)

    • Vor 3 Jahren

      Vielleicht kommst du noch auf den Geschmack. Eines Tages könnte es passieren: du hörst alte Stones - Platten und merkst, dass diese Filler gar keine Filler sind . Sondern gottverdammte Meisterwerke.

    • Vor 3 Jahren

      Na ja... Meisterwerke? Ein paar Songs sind sicherlich top. Und in ihren früheren, experimentelleren Phasen war auch echt spannendes Material darunter, das heute selten gespielt wird. Aber insgesamt ist das Werk schnellerer Blues, der von wohlhabenden weißen Kindern aus England gespielt wurde. Aus aktuellem Anlaß ist aber natürlich zu erwähnen, was für ein geniales Groovegefühl Charlie Watts hatte, und wie klug er die Hi-Hat spielte.

    • Vor 3 Jahren

      Stelle mir gerade vor, sie hätten nur die Hälfte ihrer Studioplatten mit genau der Hälfte ihres ursprünglichen Materials veröffentlicht, dabei aber Zeit ihres Lebens stilsicher die Hälfte des heutigen Gesamtwerks für jedes Album gewählt , die in ragis Ohren das Füllmaterial ausmacht. :D

      Wahrscheinlich bekommt mensch als Resultat die Beatles. :)

    • Vor 3 Jahren

      Bitte, was?

      Nach jeder Lesart, die mir auffiel, kann ich aber schon mal festhalten: Bis auf zwei-drei Ausnahmen fällt mir spontan kein Material bei den Beatles ein, das nicht sofortigen Ohrwurmcharakter hätte.

    • Vor 3 Jahren

      Warum eigentlich Beatles oder Stones? Hab ich nie verstanden. Waren sogar befreundet, im Gegensatz zu vielen "Rivalen" aus der Musikmythologie.

      Die einen wollten halt richtig verspielt, kreativ, innovativ sein, sich selbst ständig fordern und gegenseitig mit Songperlen übertrumpfen. Die anderen haben relativ bald ihren ganz eigenen, schnieken Stil gefunden, und sich da nur seeeeeeehr sporadisch einmal herausbewegt. Aus diesem engen Stilkorsett stammen dann mMn. auch die ganzen Filler.

    • Vor 3 Jahren

      Keine Ahnung. War zu der Zeit gerade in einer anderen Ecke des Universums, mag aber den Gedanken, dass es halt wie zwei Fernsehsender damals eben nur diese zwei bekannten Bands für einen Vergleich gab und mehr war irgendwo unvorstellbar zu viel für popaffine Menschen. Überleg auf was die früher noch alles verzichten mussten, die mussten nunmal nehmen, wen und was sie kriegen konnten!

      Da war der Strafplanet seinen Namen noch alle Ehre wert. Nicht wie bei uns 5 Minuten vorm runterbrennen oder ersaufen, wo es mit jetzt schon lachend in die Kreissäge springen, sich demnächst mit offenen Armen in den brennenden Wald stellen oder beim beim ersaufen in 15-35 Jahren noch möglichst viele mit nach unten ziehen wirklich so etwas wie ne echte Auswahl gibt. Hatten die doch gar nicht, kommen viele von denen auch bis heute nicht mit klar! ;)

  • Vor 11 Jahren

    verstehe....allerdings kommt vieles beim ruf der stones daher, dass die meisten stets den ewigen kanon der ungefähr selben 100 lieder hören/kennen/feiern....das hier empfinde ich beispielsweise schon als experimentell und sehr psychedelisch...von ihrem unterschätzten 1967er meisterwerk "Their satanic majesties"
    http://www.youtube.com/watch?v=_EfghELvr0E… (« @dein_boeser_Anwalt (« keith ist unfuckable. das reicht. »):

    Also es gibt da bestimmt mehr als 100 Frauen die das Gegenteil behaupten würden :D

    Ich muss sagen, ich bin mit den Stones nie warm geworden obwohl ich ihnen ihren Status auf jeden Fall würdige. Die Klassiker von ihnen sind nunmal zu Recht Klassiker und Paint it black ist einfach nur ein genialer Song. Persönlich bevorzuge ich aber auch eher die experimentellen Songs der Beatles, wobei ich auch nicht behaupten würde, dass ich die auf Albumlänge kenne. »):

  • Vor 7 Jahren

    Schön geschrieben! Allein.. "Dead Flowers" stammt im Original wohl eher von Townes van Zandt. Das wusste sicher auch Gram Parsons, den wir aber leider ebenfalls nicht mehr danach fragen können. Wobei: der Country-Groove besagter Version könnte durchaus auf letzteren zurückzuführen sein - erm, hat jemand gerade mal Keef's letztes Buch zur Hand?

  • Vor 3 Jahren

    Bestes Album von den Stones.