laut.de-Biographie
The Shapeshifters
Gestaltwandler sind schwer zu fassen. Die Möglichkeiten, auf der Jagd nach dem Phantom in die Irre zu gehen, sind ebenso zahlreich, wie seine Erscheinungsformen. Hat man jedoch sichergestellt, dass man es weder mit dem House-Projekt Shapeshifters zu tun haben möchte, die im Frühjahr 2004 mit "Lola's Theme" die britischen Charts stürmen, noch mit dem neuseeländischen Drum'n'Bass-Act Shapeshifter, dann ist man dem bizarren Westcoast-Äquivalent des Wu-Tang Clan schon dicht auf den Fersen.
Wir befinden uns im Los Angeles der späten 80er Jahre. In der Stadt der Engel blüht die Graffiti-Szene. Eine Writer-Truppe bringt es schon bald zu besonderem Ansehen: Wer CBS schreiben darf, tut dies mit Stolz. Cali Bomb Squad - Can't Be Stopped. Im Umfeld von Sprühern wie Perk, MeckOne, Realm Ser und Rob One (der in der Hip Hop-Community von L.A. auch als Radio-DJ einen guten Namen hat) formiert sich schon bald eine eigene Rhyme-Force. Die Geburtsstunde der Shapeshifters liegt irgendwo in den Nebeln (oder besser Rauchschwaden?) der Zeit um 1990.
Die MCs von CBS ziehen mittels Wortgewalt, einem unerschöpflich scheinenden Fundus an abstrusen Geschichten und einer guten Portion Durchgeknalltheit die Aufmerksamkeit anderer Graffiticrews und Hip Hop-Kollektive der Gegend auf sich, es kommt zu regem Austausch und zahlreichen Kollaborationen. Die Shapeshifters setzen von Anfang an auf eins: auf personelle Stärke. Die Besetzung wechselt zu dieser Zeit ständig. Nahezu jedes Mitglied ist nebenher in zwei, drei, viele andere Projekte eingebunden, die meisten kümmern sich außerdem um Solokarrieren. Der Name ist Programm. Es entsteht ein waberndes Underground-Kollektiv, das kaum zu überblicken ist. Awol One fasst zusammen: "We were just a bunch of drunken vandals, noone was really taking things that seriously." Nichtsdestotrotz halten die Shapeshifters ihren Ball konstant im Spiel. Die Anfänge sind klassisch: Man organisiert Open-Mic-Nächte, grast die Battles in der Gegend ab, rockt die Bühnen in Grund und Boden, und verteilt Demos und Mixtapes an die wachsende Fangemeinde. Ab etwa 1998 bezeugt die Veröffentlichung diverser Singles, dass die Shapeshifters den Sprung in Studio geschafft haben - und dass sie ihr Geschäft auch dort verstehen, und nicht nur auf der Blockparty in Nachbars Hinterhof.
Die Bandbreite der musikalischen Einflüsse ist immens. Kool Keith und Run DMC werden als Ideengeber ebenso genannt wie Johnny Cash und Edith Piaf. Unter den Lieblingsplatten der Herren: Werke von Tom Waits, Kool & The Gang und den Beatnuts. Existereo outet sich in Interviews gar als Anhänger von AC/DC und The Darkness, packt dazu aber hemmungslos die Beatles und Frank Zappa auf seine Mixtapes. Garniert mit einem Schuss Weltverschwörungstheorie und reichlich Anleihen aus Science-Fiction-Szenarien fabrizieren die Shapeshifters eine Mixtur, die Hip Hop an seine Grenzen treibt - und darüber hinaus. Satte Bässe und zuweilen hochgradig alberne Samples aus Musikstücken unterschiedlichster Genres bilden das Fundament, auf welchem ein Rudel MCs ein ganz eigenes Universum ausbreitet. Das bescheidene Ziel: "Escape Los Angeles, conquer the world we walk upon."
Im Jahr 2000 kommen die Shapeshifters diesem Vorsatz mit gleich drei Veröffentlichungen einen Schritt näher. "Adopted By Aliens", "Know Future" und "Planet Of The Shapes" sind als Teile einer Serie konzipiert: Das Gesamtwerk trägt den Titel "7 Seconds Delay Portrait Of Earth Viewed From Mars". Im selben Jahr stirbt Robert Cory aka DJ Rob One 27-jährig an Leukämie. Die Hip Hop-Gemeinde LAs trauert um einen ihrer Pioniere. Bei der Benefizveranstaltung zur Deckung von Rob Ones Krankenhauskosten sind neben den Dilated Peoples und den Visionaries auch die Shapeshifters in vorderster Reihe engagiert.
Fest in der Underground-Hip Hop-Szene verwurzelt, sind und bleiben die Shapeshifters - trotz zuweilen frecher Anleihen aus dem Pop- und Dancebereich - stets weit entfernt vom Mainstream. Wenn sie auch keine Chart-Hits landen, so produzieren sie doch ständig neues Material. Aus den zahlreichen Crew-Mitgliedern kristallisiert sich nach und nach eine Besetzung mit acht MCs heraus: LA Jae, Radioinactive, Existereo, Awol One, Life Rexall, Akuma, Circus und Die geben sich das Mic in die Hand.
Besonderen Eindruck macht dabei immer wieder Ausnahmerapper Tony Martin aka AWOL One: Wie die meisten seiner Kollegen ist er in mehreren Hip Hop-Disziplinen zuhause. Er beginnt bereits 1988 damit, zunächst bei Partys, dann in Clubs, schließlich auf der USA-Tour des Lowrider Magazines Platten zu drehen. Daneben ist er als Graffitisprüher aktiv (was ihm 1991 einige Konflikte mit Ordnungshütern einträgt). Mit seinem melodischen Rapstil zieht er die Aufmerksamkeit ganzer Scharen von Westcoast-Produzenten auf sich und arbeitet mit verschiedenen zusammen. In den Jahren 1999 bis 2004 veröffentlicht er zahlreiche Soloplatten. Awol One tritt mit Common, der 2 Live Crew, De La Soul, Eminem, Funkdoobiest, den Jurassic 5, Afrika Bambaataa und den Dilated Peoples auf - die Liste ist bei weitem nicht komplett.
Kollege Circus, mit bürgerlichem Namen Marcus Wayne Aureli, ist ebenfalls interdisziplinär dabei: Berüchtigt für sein ausschweifendes Storytelling kommt Circus als Shapeshifter der ersten Stunde aus den Reihen der CBS Crew. Er ist Visual-Künstler, tanzt, legt gelegentlich auf und schockt ab und an sein Publikum mit ungerührten A-capella-Vorträgen von Jane's-Addiction-Songs.
Existereo, tätowiert bis zum Hals, wird seine Vergangenheit als CBS-Mitglied ebenfalls nicht los. Obwohl die Musik den Großteil seiner Zeit in Anspruch nimmt (sein Soloalbum "Dirty Deeds & Dead Flowers" erscheint 2002), gibt er an, immer noch den Marker in der Tasche zu tragen. Existereo arbeitet mit Die und Awol One an einem der unzähligen Shapeshifters-Seitenprojekte, "Ghostwriters".
Im Laufe der Jahre werden die Shapeshifters nicht ruhiger, wohl aber gelassener. Den Veröffentlichungen ist eine professionellere Arbeitsweise anzuhören. Mit "Was Here" erscheint 2004 das erste Shapeshifter-Album, mit dem sich alle Beteiligten uneingeschränkt zufrieden erklären. Die Produktion liegt weitgehend in den Händen von Life Rexall und LA Jae, der nebenbei für Cuts und Scratches verantwortlich zeichnet. Beistand kommt von Underground-Produzent Daddy Kev (der auch bei vielen Solo- und Seitenprojekten seine Finger an den Reglern hat) und dem ehemaligen Kollektivmitglied Mike McMullen, der Szene besser als Transducer bekannt. "Was Here" bedient sich in bester Shapeshifter-Tradition aus allen Bereichen. Zu finden sind Hip Hop- und Ragga-Beats, Samples aus Electro-, Disco- und Dancepop-Tracks, irre gewordene Vocoder, Schnipsel aus Science-Fiction- und Horrorfilmen. Darüber flowt eine ganze Armee überaus mitteilungsbedürftiger Geschichtenerzähler mit unüberhörbarem Vergnügen auf dem Weg zur Weltherrschaft.
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