laut.de-Kritik
Ein Geduldsspiel mit zögerlichem Belohnungssystem.
Review von Daniel ThomasZeit ist im Kosmos von Tortoise relativ. Die Band aus Chicago scheint davon mehr zu haben als andere. Ganze sieben Jahre hat der Nachfolger zur 2009er Platte "Beacons Of Ancestorship" auf sich warten lassen. Und das liegt nicht etwa daran, dass Tortoise die Muse verlassen hätte. Die Songs der Band müssen vielmehr einen langwierigen Bewährungsprozess durchlaufen.
So entstand ein Teil der elf neuen Stücke bereits vor über sechs Jahren, als die Stadt Chicago ihre freigeistige Vorzeigekapelle damit beauftragte, einen Track über die lokale Jazz- und Impro-Musikszene zu schreiben. Tortoise nahmen dankend an und integrierten kurzerhand das entstandene Material in ihr Konzert-Repertoire. Es gab also erst eine Live-Version dessen, was "The Catastrophist" schließlich geworden ist. Während andere Bands darüber grübeln, wie sie ihre Musik anständig auf die Bühne bringen können, brachten Tortoise eine halbe Ewigkeit damit zu, das live Gespielte ihren Vorstellungen entsprechend auf ein Album zu packen.
Im Umkehrschluss bedeutet das gekrümmte Raum-Zeit-Kontinuum von Tortoise aber auch, dass man für ihre Kunst deutlich mehr Geduld und somit Zeit aufbringen muss, um irgend eine Form von Nachvollzug zu generieren, als das sonst im schnelllebigen Popzirkus so üblich ist.
Zunächst wirkt das, was die Band auf ihrem siebten Album anbietet, nämlich ganz schön sperrig. Und das liegt weder an technischer Akrobatik, noch an allzu avantgardistischen Sounds oder Strukturen. Schuld ist die gleichermaßen elegante wie fordernde Mixtur aus Instrumentalrock und Electronica, verbunden mit polyrhythmischem Krautrock und Jazz.
Nur mit dem Begriff des Postrock kommt man ihnen jedenfalls schon lange nicht mehr bei. Das Genre, das Tortoise quasi miterfanden, dekonstruierten sie bereits mit ihrem 1996er Meisterwerk "Millions Now Living Will Never Die" selbst, noch bevor Postrock richtig Laufen konnte.
Seither steht ihr Sound so verlassen und autonom auf weiter Flur wie Joanna Newsom unter Singer/Songwriterinnen. Hinzu kommen auf "The Catastrophist" noch eine unerhörte Flexibilität und sogar Gesang.
So fängt das Titelstück die Ambivalenz eines sonnigen Wintertages ein und pendelt zwischen klirrenden Synthies und warmen Gitarrensounds, mal jubilierend, mal mit gesenktem Haupt. Es gehört mit dem abschließenden "At Odds With Logic" zu den wenigen Ausnahmen, die auch zu Beginn eine Zutraulichkeit ausstrahlen.
Ganz anders "Rock On" – ein klobiges Cover von David Essex' 1973er Radiohit, das nicht an wummernden Bässen und Vocal-Effekten spart und direkt die vermeintliche Hoffnung zerstört, der erstmals im Oevre von Tortoise auftretende Gesang wäre der Sperrigkeit abträglich.
Das schwindelerregende "Gesceap", stapelt wiederum mit Hingabe und Tempo synthetische Orgelsounds zu Turmbauten, um sie am Ende ganz ineinander einstürzen zu lassen. Dem gegenüber steht der getragene Minimalismus von "The Clearing Fills". Die entrückte Jazz-Ballade geizt dafür nicht mit abseitigen Harmonien.
Doch gerade, als man so richtig Willens ist, die Herausforderung anzunehmen, tritt Georgia Hubley von Yo La Tengo auf den Plan und singt, wenn auch etwas windschief, im souligen "Yonder Blue" alle Anstrengung beiseite.
Am Ende hat man mehrere 360 Grad Windungen genommen und dabei unterschiedlichste Gefühlszustände durchlebt, die allesamt so wage bleiben, dass das Hirn den Bauch nicht verstehen kann.
Die Platte ist deshalb ein regelrechtes Geduldsspiel mit äußerst zögerlichem aber stetigem Belohnungssystem, und trotzdem vielleicht die Beste seit "Millions Now Living Will Never Die". Abschließend wird sich das allerdings erst mit fortgeschrittener Zeit beurteilen lassen – wobei wir wieder beim Thema wären. Fest steht, dass Tortoise ihr bislang vielseitigstes Album aufgenommen haben.
2 Kommentare mit 3 Antworten
Das Cover macht mir Angst.
Dito
Die Musik auf der Platte leider gar nicht. Das sind Tortoise auf gewohnt hohem Niveau ohne unerwartete Ein- oder Ausbrüche.
Ich hab mich vor 10 Jahren schon mal gefragt, ob überhaupt irgendwer gern Tortoise hört, der nicht selber auch Musik macht und sich nur so an allen verborgenen, unscheinbar wirkenden und irgendwie sympathisch verschrobenen Songexperimenten erfreuen kann. Für nichtanalytische Freunde der Pop- und Unterhaltungsmusik müssen die doch klingen wie Fahrstuhlmusik in leichter Schräglage.
Ich glaube nicht, dass man selbst Musik machen muss, um all diese Ebenen wahrzunehmen. Es hilft sicherlich, aber ist nicht die einzige Möglichkeit, sein Gehör dafür zu schärfen.
"Während andere Bands darüber grübeln, wie sie ihre Musik anständig auf die Bühne bringen können, brachten Tortoise eine halbe Ewigkeit damit zu, das live Gespielte ihren Vorstellungen entsprechend auf ein Album zu packen."
Ich frage mich wie der Autor diesen Schluss ziehen konnte? Mal rechnen, Copy&Paste, einundzwanzig künstlerisch aufgeblähte Wörter. Ein echter Grübler?
Nein, gut das die Jungs hier in DE, durch den Autor, noch Würdigung erfahren. 7 Jahre mein Gott, andere hätten ihre Auflösung vor 6 Jahren schon bekannt gegeben.