laut.de-Kritik

Scotty auf dem Weg nach Walhalla.

Review von

Wenn ich jedes Mal einen Cent dafür bekäme, wenn sich Travis Scott auf "Utopia" mit dem antiken Philosophen Sokrates vergleicht, hätte ich zwei Cent. Was, wie wir wissen, nicht viel ist, aber witzig, dass er es gleich zwei Mal tut.

Wenn ich einen Cent bekäme für jeden Track auf diesem Album, der in mir eine knirschende kognitive Dissonanz auslöst, weil die absolut fantastische Musik in strengem Kontrast zu den absolut dürftigen Texten steht, hätte ich 19 Cent. Was eine ganze Menge ist.

Aber ist das ein Problem? Es handelt sich schließlich um ein Travis Scott-Album. Und mir ist nicht bekannt, dass die jemand wegen der Texte hört. Leider lässt sich das Hören von Texten auf einem Rapalbum schwer umgehen, und es gibt auf "Utopia" eine ganze Menge davon. Dazu später mehr.

Die Beats auf der Platte scheppern dafür allesamt ziemlich brutal, um in der Fachsprache zu bleiben. Das Album beginnt mit "Hyena" und einem Gentle Giant-Sample. Noch bevor die oldschooligen Drums losrumpeln und sich Travis den Arsch abflowt, so als hätte er noch etwas zu beweisen, hat er schon gewonnen.

Sorry, ich habe die Regeln nicht gemacht. Nicht nur in seiner Vorliebe für obskuren, europäischen Progrock erinnert "Utopia" an das wutentbrannte Industrial-Meisterwerk seines dem Wahnsinn anheim gefallenen Lehrers. Teils verwendet er wie auf "Telekinesis" übrig gebliebenes Material aus den "Donda"-Sessions, teils zitiert er ihn (siehe die absurd majestätischen "Black Skinhead"-Drums auf "Circus Maximus"), teils trauert er ihm hinterher ("Man, the clique ain't been the same since we lost the greatest").

Um Weezer zu paraphrasieren: Kanye has turned and left us here. Ich glaube, wir vermissen ihn alle. Zwischendurch demonstriert Travis aber auch, dass er ganz offensichtlich das Problem nicht versteht, das sich ergibt, wenn der einflussreichste Musiker der letzten 20 Jahre in einem Interview mit dem faschistischen Hetzer Alex Jones zu Protokoll gibt, dass er Adolf Hitler toll findet: "I'm loyal, bitch, I put Ye over Biden".

In Gestalt von "Utopia" lebt die Idee vom großen Sommerblockbuster-Rapalbum noch einmal auf, das die unterschiedlichen Szeneströmungen des US-amerikanischen Hip Hops in einer abendfüllenden, kreativen Machtdemonstration bündelt. Die Goons (zwei Mal 21 Savage, Westside Gunn, Rob49), die Diven (SZA, Beyoncé, Drake, The Weeknd) und die Weirdos (Cudi, Playboi Carti) auf "Fe!n", das klingt, als hätte ihm jemand unmittelbar vor der Aufnahme kräftig in die Eier getreten, Young Thug auf "Skitzo" mit einem Part aus dem Knast), versammeln sich hier, um am Evangelium nach Scott mitzuwirken - demzufolge er am meisten bumst und am härtesten basst.

19 Tracks auf über 70 Minuten wirken in Zeiten von TikTok etwas aus der Zeit gefallen, umso mehr befriedigt es den Kulturpessimisten in mir, dass das Album die Spannung über die volle Länge hält. Travis Scott entwickelt seinen Sound behutsam, aber effektiv weiter, setzt beispielsweise Ad-Libs deutlich sparsamer ein als noch auf "Astroworld", seiner Ode an die Trapmusik, und denkt auf futuristischen Diskopumper-Bangern wie "Modern Jam" (featuring Guy-Manuel of Daft Punk-Fame) oder "Circus Maximus" die kargen, brutalistischen Beatansätze weiter, an denen er schon vor zehn Jahren mit Kanye auf "Yeezus" herumgetüftelt hat.

Trap kann er natürlich immer noch: "Topia Twins", mag der Flex auch noch so sehr ins Alberne kippen, geht direkt ins Stammhirn ("Twin bitches hoppin' of a jetskiiiiiiiiiiii"). Auf so einem Beat würde ich gerne mal Farid Bang hören. Auf "Meltdown" kommt er dem unvermeidlichen Drake mit einem düster schiebenden Soundgerüst entgegen, das stark den exzellenten Beats auf "Her Loss" ähnelt, auf denen der notorischste aller Kanadier so gut funktioniert. Der tut, was er am besten kann, nämlich ein petty motherfucker sein: "Give a fuck about all of that heritage shit / since V not around the members done hung up the Louis, they not even wearing that shit."

Wenige im Rap wissen außerdem so gut wie Scott, wie ein Key Change geht und was der mit uns macht, beziehungsweise was ein Beatswitch für die Dramatik des Songs bewirken kann, plus wie man solche Manöver optimal timed. Wenn sich nach zwei Dritteln von "Thank God" die Stimmung aus dem Düsteren ins Helle dreht und am Ende wieder zurück, oder wenn er am Ende von "Skitzo" noch mal den Boom Bap rausholt, erhebt das den Vibe auf ein anderes Level.

Richtig spannend wird es, wenn er seine musikalische Komfortzone verlässt. "Delresto (Echoes)" kombiniert einen Housebeat und einer Synthiemelodie, die sich auf Tage ins Gehirn fräst, mit einer Beyoncé auf der Höhe ihrer stimmlichen Virtuosität. Ein Track, der klingt, als würde der Hauptdarsteller durch eine Kathedrale aus Bass schreiten. "Looove" greift die Partystimmung auf und kombiniert sie mit Paranoia, "K-Pop", die überraschend sanfte Single, lehnt sich gen Süden und könnte so auch auf einem Album von Featuregast Bad Bunny erscheinen.

Er entdeckt außerdem die Melancholie wieder, welche viele seiner früheren Tracks ausgezeichnet hat, und hier fällt dann doch auf, dass Travis Scott-Lyrics in erster Linie immer Silben auf dem Beat sind, eine Leinwand, auf die er seine Effektwände malt. Zwischendurch klingt es so, als würde er mehr sagen wollen, aber es nicht richtig hinkriegen. Das Album blendet den bedrückenden Kontext, in dem es statt findet, größtenteils aus, nämlich das auf dem Höhepunkt von Scotts Karriere, 2021 auf dem "Astroworld"-Festival in seiner Heimatstadt Houston, zehn Menschen in einer Massenpanik ihr Leben verloren haben. Die einzige Stelle, die sich explizit darauf bezieht, findet sich auf "My Eyes": "I replay them nights and all by my side all I see is a sea of people that ride with me / If they just knew what Scotty would do to jump of the stage and safe him a child." Nur um dann einige Lines später wieder über die Cribs und die Whips und die Watches zu reden, so als hätte er Angst bekommen, für einen Moment zu real zu werden.

Ich denke, da wäre auf dieser Ebene deutlich mehr drin gewesen, weil diese Melancholie musikalisch immer wieder durchkommt, auf dem entrückten "Parasail" mit Yung Lean oder auf "Telekinesis" mit Future und SZA. Ersterer zeigt, wie man in wenigen Zeilen flexen und sich lyrisch öffnen kann, ohne die sorgsam kultivierte Drecksackpersona verlassen müssen, und wenn sich für SZAs Part die Schleusen öffnen und die Bläser einsetzen und sie der Welt die Frage "how can I sleep if you're out catching bodies" entgegenschleudert, ist eh alles zu spät. Daneben wirkt Scott mit den Worten "I can’t wait to live in glory in eternal lasting life" wie jemand, der versucht, ein Gefühl auf Knopfdruck herzustellen. Ich glaube ihm, dass er das fühlt, und inhaltlich würde ich ihm es natürlich gönnen, dass es so kommt, aber hier und an vielen weiteren Stellen kann der Text das Pathos nicht tragen, dass die Musik aufbaut.

Man kann sich gerade als Nicht-Muttersprachler sehr gut damit einrichten, einfach den Melodien der Worte zu lauschen anstatt den Worten an sich. Ich würde mir trotzdem wünschen, dass er sich bei Zeilen wie "I got twenty bitches sucking like bisons" mal bewusst wird, dass einen so was aus dem Flow des Albums holt, wenn man zu sehr darauf achtet. Vielleicht werde ich aber auch einfach nur älter und grantiger und Scott immer perfekter darin, diese wunderschönen Skulpturen aus perkussiven Klängen zu bauen, die nichts bedeuten außer sich selbst und auch genauso sein wollen. Wie man es dreht und wendet, "Utopia" ist der Rap-Blockbuster des Sommers, das musikalische Pendant zu Oppenheimer, nur mit deutlich besserem Soundmixing und einer präziseren künstlerischen Vision: Bass und Ruhm. Amen.

Trackliste

  1. 1. Hyena
  2. 2. Thank God
  3. 3. Modern Jam
  4. 4. My Eyes
  5. 5. God's Country
  6. 6. Sirens
  7. 7. Meltdown
  8. 8. Fe!n
  9. 9. Delresto (Echoes)
  10. 10. I Know ?
  11. 11. Topia Twins
  12. 12. Circus Maximus
  13. 13. Parasail
  14. 14. Skitzo
  15. 15. Lost Forever
  16. 16. Looove
  17. 17. K-Pop
  18. 18. Telekinesis
  19. 19. Til Further Notice

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