laut.de-Kritik
"Am Ground Zero der feministischen Revolution ..."
Review von Giuliano BenassiStimme: Ani DiFranco. Gitarre und Klavier: Ani DiFranco. Texte und Musik: Ani DiFranco. Aufnahmen, Produktion und Abmischung: Ani DiFranco. Label: Righteous Babe Records (Ani DiFranco). Mit ihrem achtzehnten Album in fünfzehn Jahren besinnt sich die eigenwillige US-Amerikanerin auf einfache, aber effektive Mittel.
"Educated Guess" stellt dennoch kein Singer/Songwriter-Material im gängigen Format dar. "Ich rüstete mich für den langen Weg zurück zu meinem Ich, näher am Boden der Tatsachen, mit Trauer und Durchhaltevermögen" verrät DiFranco in der gesprochenen Einführung "Platforms". Das Ergebnis der Reise ist eine Mischung aus Klaviergeklimper und Gitarrengezupfe, das sie stellenweise mit drei oder vier Stimmen begleitet. Dissonant und doch erstaunlich harmonisch, erzählt DiFranco von Beziehungen, ihrem gebrochenen Herzen und Politik.
Wie gewohnt gibt sie sich in ihren Texten kämpferisch. "Ich bin eine mächtige, kriegerische Amazone, nicht nur ein jammerndes Mädchen", erklärt sie zu Beginn des vierten Stücks, in dem sie Männer als "Origami-Wesen" definiert, die "Frauen brauchen, um entfaltet zu werden, und Arme, in denen sie weinen können". Eine Einstellung, die offenbar zu Beziehungsproblemen führt, wie "Swim", "Bodily", "You Each Time", "Company", "Raincheck" und "Bubble" beweisen. Dazwischen trägt sie Beobachtungen wie "Literal" oder "The True Story Of What Was" vor und stellt das konsum-orientierte Verhalten ihrer Mitbürger sowie die US-Regierung an den Pranger.
"Da gibt es eine brutale imperialistische Macht, von der mein Pass besagt, dass ich sie repräsentiere", wärmt sie sich in "Animal" auf, bevor sie in "Grand Canyon" zum K.O.-Schlag ansetzt: "Ich liebe mein Land ... geboren aus tiefsten Schmerz, enstand ein Grand Canyon aus Licht ... ich liebe meine Land, womit ich meine, dass ich mich den Menschen in seiner Geschichte verpflichtet fühle, die die Regierung bekämpft haben, um das Richtige zu machen." Auf diese Wut und Überzeugung setzt sie, um die Gesellschaft wach zu rütteln. "Leute, wir stehen am Ground Zero der feministischen Revolution ... man hat uns dazu gebracht, sie zu vergessen ... es ist aber an der Zeit, die Wahrheit zu sagen: das coolste F-Wort verdient einen fucking Schrei!" lautet ihre Lösung.
Trotz solcher Ansagen ist ihr mit "Educated Guess" ein fast tröstendes Album gelungen. Das mag auch mit dem häuslichen Ambiente zu tun haben, das den Aufnahmen zugrunde lag. In einer Hütte bei New Orleans und DiFrancos Haus in Buffalo, New York auf ein Acht-Spur-Rekorder gebannt, sind in den Stücken stellenweise Regengeplätscher und vorbei fahrende Züge zu hören. In der Geborgenheit ihrer vier Wände hören sich die Gedanken der Künstlerin weniger wie Tiraden, sondern eher wie Gedichte an.
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