laut.de-Kritik

Wenn der Zuckerhut zum Gletscher wird.

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Es soll sie da draußen geben, jene Menschen, die den Wert eines Albums bevorzugt nach dem Preis-Leistungs-Verhältnis bewerten: Je mehr Songs es fürs Geld gibt, desto besser. Ein Longplayer, der nicht mindestens siebzig Minuten dauert und über weniger als fünfzehn Tracks verfügt, ist eine Unverschämtheit. Falls sie zu jenen gehören, sollten sie um Anna Ternheims "All The Way To Rio" einen weiten Umweg machen. Mit gerade mal acht Stücken kommt das Werk nur ganz knapp über eine halbe Stunde.

Lässt man von diesem Gedanken jedoch los, erkennt man schnell, dass in ihrem Fall gerade in der Kürze und der Kompaktheit die Stärke liegt. Durch das Wegrationalisieren und Ausradieren jeder unnützen Information und Note fällt es schwer, überhaupt an etwas herumzumosern. In der Schattenwelt zwischen Longplayer und EP gelingt der skandinavischen Singer/Songwriterin Ternheim ihre beste Arbeit seit dem Debüt "Somebody Outside".

Um dies zu Erreichen brauchte Anna vor allem Geduld und Zeit. Beides wurde zum Grundschlüssel des "All The Way To Rio"-Projekts, das bereits vor gut fünf Jahren startete. Damals begann sie in eben jener brasilianischen Stadt unter dem Cristo Redentor an den ersten Songideen zu basteln. Zurück in der Heimat arbeitete sie einen Sommer lang mit ihren liebsten Musikern Stockholms an den Titeln, bevor das daraus entstandene Chaos in der Schublade verschwand. Vom Ergebnis enttäuscht, begann Ternheim mit Andreas Dahlbäck an "For The Young" zu arbeiten.

Nach diesem letztendlich zu lieblichen ausgefallenen Vorgänger kramten beide die Rio-Aufnahmen aus, entstaubten sie, kürzten wo es nur ging und brachten Ordnung in das Tohuwabohu. Doch letztendlich waren es ausgerechnet die vom Maler Jacob Felländer gezeichneten, frostigen Gipfel des Himalayas, die die Gedanken über die Ziellinie brachten, die einst im sonnigen Rio entstanden.

"Die Bilder, die ich schon sehen konnte, hatten eine irre Atmosphäre: düster, ruhig aber auch dramatisch", erklärt Ternheim. "Er beendete sein Projekt mit meiner Musik im Ohr, und ich finalisierte die Musik mit seinen Bildern im Kopf. Ein düsteres, verträumtes, aber auch inbrünstiges Stillleben. Ein musikalisches Gemälde."

Als Ergebnis steht nun wohl das kälteste Album, das je das Wort "Rio" im Titel trägt. In Anna Ternheims Welt wird der Zuckerhut zum Gletscher und am 13. Juli 2014 krönte sich nicht Deutschland, sondern Grönland zum Fußballweltmeister. Voller Grazie, Anmut und von Schnee getragen entfernt sie sich von eingefahrenen Strukturen und der Sofalastigkeit der letzten Longplayer, ohne dabei ihre Eingängigkeit zu verlieren.

Auf dem ebenso intimen wie leidenschaftlichen "All The Way To Rio" steht ihr wieder jeder Weg offen. Energische Gitarren wechseln sich mit ruhigem, in Moll getragenen Folk und sphärischen Klängen ab. Diese Rückbesinnung auf die alten Stärken wirkt fast wie eine Neugeburt. "Down in Rio / To start all over."

Pumpernde Percussions und zaghafte Synthesizer bauen ab der ersten Sekunde des Openers ein fesselnde Atmosphäre auf, bis sich Ternheims glasklare Stimme zusammen mit der einsteigenden Gitarre in den titelgebenden Refrain fallen lässt. Bereits mit diesem ersten Stück ist klar, dass man ein besonderes Kleinod in den Händen hält.

Das dynamische "Holding On" wehrt sich gleich zu Beginn mit ruppigem Bass gegen jeden Kuschelvorwurf. Beim Erklimmen des Gipfels fährt es trotzig die Ellbogen aus, nimmt sich aber auch hier und da eine von Orgeln bestimmte Schnaufpause. In diesem Umfeld ergibt auch das gemütliche "Battered Soul" Sinn, das im Gegensatz zum letzten Longplayer nicht die bestimmende Gesamtheit, sondern nur einen Aspekt der Künstlerin aufzeigt. Ein Ohrwurm, dessen Gitarre an R.E.M.s schönste Pop-Momente erinnert.

Den Höhepunkt hebt sich "All The Way To Rio" jedoch bis zum Ende auf, in dem "Keep Me In The Dark" und dessen Abspann "Dreams Of Blue" Hand in Hand gehen. Augenblicke, in denen das Songwriting dem instrumentalen Teil zunehmend Platz lässt, um in klanggewaltigen Passagen Felländers Bilder und so den Himalaya mit geschlossenen Augen zum Leben zu erwecken. Von seinem intimen Beginn aufbrechend erhebt sich "Keep Me In The Dark" zu einem vor Schönheit und Eleganz funkelnden Finale. Ein wundervoller Moment, in dem sich die Quintessenz eines Albums findet, dessen komplizierte Entstehungsgeschichte man in keiner Sekunde bemerkt.

Trackliste

  1. 1. All The Way To Rio
  2. 2. Waving His Hello
  3. 3. 4 In The Morning
  4. 4. Holding On
  5. 5. Maya
  6. 6. Battered Soul
  7. 7. Keep Me In The Dark
  8. 8. Dreams Of Blue

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