6. März 2013
"Sport und Musik haben viel gemeinsam"
Interview geführt von Yan VogelDass die kanadischen Rocker noch ein unbeschriebenes Ahornblatt sind, dürfte nach der Support-Tour mit ihren Landsmännern Billy Talent der Vergangenheit angehören.Knapp eine Stunde vor Showbeginn sitzt mir Frontmann Max Kerman im Backstage-Bereich der Frankfurter Festhalle gegenüber. Auf den Gängen herrscht muntere Betriebsamkeit, und zwischendurch schaut sogar Billy Talent Frontkreischer Ben Kowalewicz herein, um sich von der Band eine Festplatte mit den neuesten Filmen auszuleihen.
Ihr habt vor sieben Jahren laut Plattenfirmeninfo angefangen, gemeinsam Softball zu spielen. Wir kommt man da auf die Idee, eine Band zu gründen?
Wir kennen uns schon ziemlich lange. Wir haben alle in High School Bands gespielt, und mein Ziel war es schon immer, eine Rockband zu gründen. Es war schon ein ziemliches Glück, die anderen Jungs zu treffen. Bis heute klappt es ganz gut.
Und die Geschichte mit dem Softball?
Das war ein High School Team, nur zum Spaß. Das war unsere Ablenkung. Aber nach den schulischen Verpflichtungen widmeten wir uns ausschließlich der Band.
Ein Schlagzeuger kann sicherlich davon profitieren, wenn er behände den Softball-Schläger schwingen kann.
(Grinst) Das ist allerdings eine gute Übung. Es gibt schon einige Gemeinsamkeiten zwischen Sport und Musik, gerade in physischer Hinsicht.
Hierzulande seid ihr noch relativ unbekannt. Kannst du euren Werdegang kurz zusammenfassen?
Wir spielten so viele Shows wie nur irgendwie möglich. Nach unserem Abschluss begannen wir alles in eine Waagschale zu werfen und tourten so viel wir konnten. Derzeit sind wir zum ersten Mal in Europa, aber in Kanada waren wir die letzten vier Jahre konstant unterwegs. Teilweise auch in Amerika, aber den größten Teil in Kanada.
Es ist ziemlich spannend, all die Städte, Länder und Menschen kennen zu lernen, die wir bislang noch nicht kannten. Wir alle genießen das Leben auf Tour sehr. Einfach die Möglichkeit zu haben, als Gruppe zusammen zu sein und gemeinsam Musik zu kreieren, ist schon eine sehr schöne Sache.
Wie konntet ihr auf den Tourtross von Billy Talent aufspringen? Gibt es irgendwelche Verbindungen?
Wir kennen die Jungs tatsächlich schon recht lange.
Beide Bands stammen aus Kanada ...
Wir haben sie damals in unserer Stadt kennen gelernt, sie sind einfach großartige Menschen und es ist sehr nett, gemeinsam abzuhängen. Mal davon abgesehen, dass sie auch in Kanada eine große Band sind, aber Deutschland lief bislang richtig gut für sie und sie schwärmten uns regelrecht etwas vor. Und als sich diese Tour anbahnte, haben sie uns gefragt, ob wir als Support mitfahren wollen.
Ich habe mich mit eurem Blog auf der Homepage befasst. Ihr schreibt dort, dass eine Tour in einem Land, in dem man noch nie war, vergleichbar damit ist, eine Frau kennenzulernen. Wie ist denn dein erster Eindruck von Deutschland und wie ist die Akzeptanz der Fans?
Man muss erst einmal ein Gefühl dafür bekommen. Bei den ersten paar Shows weiß man noch nicht genau, was einen zu erwarten hat. Unsere Erwartungen wurden jedoch übertroffen. Es ist wirklich überwältigend. Die ersten Shows haben wir alleine gespielt wie in Hamburg auf dem Reeperbahnfestival und in Berlin. Alles lief super und wir wurden sehr herzlich empfangen. Bei den großen Shows kann man sich nie sicher sein, wie die Fans auf den Support reagieren, aber bislang bekamen wir positive Resonanzen und die Fans gingen gut mit.
"Straight Forward-Rough Energy-Rock"
Es ist eine sehr ungewöhnliche Situation. "Michigan Left", euer zweites Album, ist bereits in Kanada erhältlich, euer erstes Album, "Jackson Square", kam allerdings erst Ende Juni in Deutschland heraus. Wie geht ihr mit dieser Situation um, die recht gegensätzlich zu eurer musikalischen Entwicklung verläuft?In Kanada haben wir einiges von "Jackson Square" auf der Setlist. Wir wissen, dass "Michigan Left" hierzulande erst Frühjahr 2013 erscheint. Wir sind zum ersten Mal hier, fast keiner kennt einen Song von uns. Unser Vorteil ist, dass "Jackson Square" ein waschechtes Rockalbum ist und wir darauf brennen, diese Rocksongs zu spielen. Wir fühlen uns nicht als musikalische Diven, die nur eine bestimmte Anzahl an Songs spielen wollen. Wir lassen uns vom jeweiligen Tag inspirieren, haben eine Menge Spaß und freuen uns auf die anstehenden Shows. Und dass die Leute nun die Gelegenheit haben, "Jackson Square" kennen zu lernen, spornt uns eher noch an.
Trotzdem stelle ich es mir nicht leicht vor. Ihr seid in dieser beschwingten Springsteen meets Beach Boys meets die großartigsten Melodien, die noch niemand geschrieben hat-Stimmung von "Michigan Left" ...
(Erstaunt) Wer hat das geschrieben?
Oh, das war mein Eindruck.
(Lacht) Das kann so stehen lassen.
Und nun müsst ihr das basische und rockorientierte Debüt promoten.
Die Leute reagieren auf "Jackson Square" und "Michigan Left" unterschiedlich. Wir gehen derzeit in eine neue Richtung und erweiterten unseren Sound auf "Michigan Left" erheblich. Die Songs werden zwar immer noch auf dem Klavier und der Gitarre geschrieben, aber hinsichtlich der Produktion haben wir unterschiedliche Dinge ausprobiert. Live sind wir nach wie vor eine Rockband. Von außen mag der Unterschied größer sein. Aber für uns, die die Songs schreiben, ist es nicht so.
Kannst du ein wenig über den Hintergrund des Titels "Jackson Square" erzählen?
Wir sind eine Band aus Hamilton, Ontario, was in der Nähe von Toronto liegt. Dort liegt auch die Universität, wo wir alle zur Schule gegangen sind. Jackson Square ist das Einkaufszentrum, das mitten in der Stadt liegt. Wir beschreiben einfach Momente, die sich um dieses Zentrum herum ereignet haben. Es ist ein beliebter Treffpunkt. Es ist ein wichtiger Transport und Verbindungspunkt. Mir bedeutet der Titel einiges, da er die Stadt repräsentiert und was sie an Geschichten mit sich bringt.
Insofern beschreibt "Jackson Square" auch euren Backround und ist nicht nur der Fixpunkt eurer Geschichten?
In den Songs beschreiben wir Geschichten, die sich dort ereignet haben. Natürlich sind diese Erlebnisse auch ein Teil von uns.
Wir haben bereits über den Sound von "Jackson Square" gesprochen, der wesentlich basischer und rockorientierter ausfällt als auf "Michigan Left". Kannst du noch ein wenig zum Entstehungsprozess eures Debuts sagen?
Zunächst steht am Anfang eine Idee, die beispielweise von den Lyrics herrührt. Oder man ist von einer Melodie inspiriert, um die herum der Song gebaut wird. "Oh, The Boss Is Coming", entstand als ich auf der Arbeit über diese Phrase nachdachte. Produktionstechnisch ist "Jackson Square" von traditionellen Rockbands beeinflusst. Dazu gehören kanadische Underground Bands, aber auch Rocksteady, The Gaslight Anthem, alles was man unter der Bezeichnung Straight Forward-Rough Energy-Rock gruppieren kann.
Kannst du kurz die Entwicklung zum nächsten Album "Michigan Left" beschreiben?
Wir begannen ähnlich wie bei "Jackson Square" mit den Basics und bauten darum ein Songgerüst. Wir mögen alle die unterschiedlichsten Arten von Musik. Natürlich werden von anderen Bands, Fans und Journalisten Standards an einen herangetragen. Ich lasse mich hingegen von vielen Seiten inspirieren, das kann ein Jimmy Eat World-Songs sein genauso wie ein verrückter Radiohead-Song. Alles was mich berührt, kann mich inspirieren. Für "Michigan Left" lauten die Einflüsse Spoon, Phoenix, Bruce Springsteen oder Fleetwood Mac.
Die Herangehensweise bleibt jedoch die gleiche. Alles beginnt mit dem Song. Und das verbindet "Jackson Square" mit "Michigan Left". Der Produktionsprozess, die Art und Weise wie wir die Songs im Studio dekorieren, ist dann der nächste Schritt. Der erste Schritt ist der, sicherzustellen, dass der jeweilige Song uns widerspiegelt und unsere Energie vermittelt.
Ein Haupteinfluss, der mir direkt entgegensprang, du hast es bereits genannt, sind The Gaslight Anthem. Sicherlich seid ihr keine Kopie, aber gerade die Passagen mit der cleanen Lead-Gitarre klingen doch recht ähnlich.
Ich denke, das lässt sich auf einen ähnlichen musikalischen Backround zurückführen. Eine Kopie hatten wir niemals im Hinterkopf.
Kann man Billy Talent als Einfluss bezeichnen?
Wir alle lieben diese Band. Mike hört Billy Talent bereits seit der High School zu Zeiten der ersten EP, noch bevor das Debut herauskam. Ich mag Billy Talent, weil sie es schaffen aggressiv zu klingen, aber dabei niemals die Schönheit vergessen und mit tollen Melodien und Refrains arbeiten. Dieser Stil begeistert mich. Das ist etwas was die beiden Bands verbindet. Es gibt diesen Classic-Rock-Einschlag im Stile von Led Zeppelin und Black Sabbath, aber sie mögen gleichermaßen The Police. Ians Lieblingsgitarrist ist Andy Summers. Ich mag die Band auch sehr. Es ist sehr spannend herauszufinden, woher eine Band kommt, welche Einflüsse sie aufgesogen hat. Wenn Ian einen Song schreibt, der von The Police beeinflusst ist, dann klingt er natürlich nicht eins zu eins nach The Police, einfach weil er noch weitere unterschiedliche Einflüsse in seinen Stil integriert. Bei uns ist es sehr ähnlich. Wir mögen harte, aggressive Musik, genauso wie melodische, poppige Musik. Wenn man es zusammenbringt, klingt es nach uns.
"John Lennon war '67 in einer bemitleidenswerten Situation"
Wie mir zu Ohren kam, habt ihr auch auf Bens (Sänger von Billy Talent) Hochzeit gespielt.Wir sind große Fans von Motown Musik und wir beherrschen ein spezielles Motown-Repertoire, Soul Musik und R&B im Stile von den Temptations, Four Tops, The Supremes oder Stevie Wonder. Immer wenn die Leute zum tanzen aufgelegt sind, können sie uns engagieren. So kam eins zum anderen und Bens Hochzeit war eine passende Gelegenheit, dieses Set auszupacken.
Ehrliche Liebeslieder ("I'm Not The Sun"), alltägliche Ereignisse und Stolpersteine wie "Oh, The Boss Is Coming", in dem du die Schikanen eines Chefs und die Angst davor beschreibst, sind die lyrischen Themen. Wie kommt diese Bandbreite zustande?
Ich möchte mich einfach nicht wiederholen und versuche, ausgelatschte Themen zu vermeiden. Das ist ein wichtiger Grund, warum die Songthemen so vielfältig ausfallen. Am wichtigsten ist die Inspiration. Du weißt nie, woher sie kommt, aber wenn sie dich ereilt, dann folgst du ihr. Die besten Lyrics fallen dir in einer Art göttlicher Eingebung zu. Wir schreiben Songs über Leute, die eine Art Vorbild für uns sind, unser Interesse auf sich ziehen oder einfach über zwischenmenschliche Beziehungen.
Nachdem ich mich eingehender mit den Lyrics beschäftigt habe, dachte ich mir, klar auf der einen Seite gibt es diese große Bandbreite, andererseits könnte der rote Faden auch sein, dass die Themen allesamt einen Bezug zur Realität aufweisen.
Stimmt. Die Themen sind definitiv nicht abstrakt, Sci-Fi oder Fantasy. Es geht um Situationen, die dich Tag für Tag ereilen können. Ich beschäftige mich viel mit Journalismus, lese viele Biografien. Ein Anlass beim Schreiben der Texte ist meistens, eine Person oder eine Situation zu beschreiben. Das macht gerade das Songwriting so interessant, eine bestimmte Geschichte gemeinsam mit der Musik zu einem anschaulichen Bild zu verdichten.
Bleiben wir noch ein wenig bei der Lyrics. Was meinst du mit der aus dem Song "The Choir" entlehnten Textzeilen: "Let The Choir Keep Singing, Those Songs That No One Wants To Hear"?
Dieser Song spielt sich in Toronto ab und hat eine Schießerei in einer Kirche zum Inhalt, also ein Anlass zu dem etwas Trauriges und Zerstörerisches passiert. In einer solchen Situation kann eine Kirche und die Hymnen und Songs, die darin zu hören sind, ein wenig Linderung für den Schmerz geben. Das dürfte die Inspiration für diesen Song sein.
Welche Leute würdest du als "Champagne Socialists" bezeichnen?
Ein "Champagne Socialist" ist jemand, der sich selbst als Sozialist bezeichnet, den ganzen Tag jedoch nichts anderes tut, als Champagner zu trinken und sich mit Luxus zu umgeben. Der Song handelt von einem Freund von uns, der die Möglichkeit hatte, ein privilegiertes Leben zu führen, aber zu sozialistischen Gedanken tendierte, die Schule schmiss, bei der Post anfing und von da an die Arbeiterklasse unterstützte und repräsentierte. Er engagiert sich bis heute für Leute, die keine Stimme haben. Er ist natürlich das Gegenteil eines "Champagne Socialist". Das ist ein gutes Beispiel für einen Text über eine Person, zu der wir aufschauen und die uns sehr interessiert.
In welcher Weise ist der Song "John Lennon" von den Beatles beeinflusst?
Auf textlicher Ebene schlüpfe ich in diesem Song in die Rolle von John Lennon im Jahre 1967, der sich in einer Zwickmühle und bemitleidenswerten Situation befindet. Zu dieser Zeit war John Lennon der populärste Musiker, aber von Dämonen beherrscht, voller Selbstzweifel und unsicher. Das ist eine spannende Ausgangslage für einen Song und viele Fans werden sicherlich auch überrumpelt von dieser Thematik. Dieser Song beschreibt den Protagonisten, der sich selbst bemitleidet und über sein Leben sinniert. Musikalisch sind die Akkorde in der Strophe an "I'm Only Sleeping" angelehnt.
Eine bewusste Entscheidung?
Nein, ich habe das erst im Nachhinein realisiert.
Wer zeichnete sich für die Saxophon-Parts im Song "Blueprint" verantwortlich, die im Refrain im Stile einer Big Band arrangiert sind und in der Bridge sehr jazzig, fast schon lasziv klingen?
Das kam ganz zum Schluss. Wir waren bereits mit dem Mix beschäftigt, dann kam uns die Idee einen Saxophonisten zu engagieren. In vielen Songs, die wir mögen, gibt es Bläsersätze. Das ist der Grund, warum wir uns letztlich dafür entschieden haben.
Das Artwork von "Jackson Square" hat einen Retro-Anstrich. Das gleiche gilt für das im Schwarz-Weiß-Stil gehaltene Musikvideo zu "Pullin Punches". Auch die Musik zeigt sich von den erfolgreichsten und innovativsten Bands in der Musikgeschichte beeinflusst. Wie stehst du eigentlich zu der Musik der Gegenwart?
Ich mag alle Arten von Musik, auch die, die heutzutage produziert wird, speziell Hip Hop. Ich suche ständig, nach neuen künstlerischen Ausdrucksformen. Ich finde es auch nicht Ok, darüber die Nase zu rümpfen, nur weil es neu ist. Man kann etwas nicht mögen, aber wenn es reflexhaft und unreflektiert geschieht, macht man sich lächerlich. Meiner Ansicht nach wird heutzutage genügend großartige Musik produziert.
Gibt es eine Frage, die dir noch nie jemand gestellt hat, die du aber immer schon mal beantworten wolltest?
Eine Frage, die bislang tatsächlich noch niemand gestellt hat und zu der ich eine ehrliche Antwort geben werde, bezieht sich auf den Song "Pulling Punches". Keiner hat bislang gefragt, ob wir die Bridge in "Pullin Punches" von Elton John geklaut haben. Und wir haben es tatsächlich getan. Jetzt kommt es heraus.
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