laut.de-Kritik

This is Forever.

Review von

Melancholie überkommt mich beim Hören von "Anthology". Was waren das für Zeiten damals, als Cedric, Omar, Tony, Jim und Paul den Post-Hardcore bis in die Nuancen ausdefinierten. Sänger Bixler-Zavala gab zwar auch schon mit At The Drive-In um drei Ecken chiffrierte Textkaskaden zum Besten, im Gegensatz zu seiner heutigen Formation The Mars Volta lieferte er aber gelegentlich auch den Langenscheidt mit. Das Quintett aus El Paso, Texas, avancierte zum Maßstab unzähliger Nachfolgebands, doch niemand reichte ihnen in den vier Jahren seit der Auflösung das Wasser. In die Geschichtsbücher ging die Band auch als Erfinder des Emocore-Genres ein.

Die Chronologie überspringt merkwürdigerweise die erste Platte "Acrobatic Tenement" und beginnt mit der mittlerweile nicht mehr erhältlichen "El Gran Orgo EP". "Fahrenheit" und "Picket Fence Cartel" datieren anno 1997 und klingen mehr Hardcore als Post, das ausgefeilte Stop & Go späterer Songs dringt jedoch schon durch. Weiter geht es mit "In/Casino/Out". Vor allem "Napoleon Solo" hinterlässt auch heute noch bleibenden Eindruck. Großartiges Gitarrenpicking und dramatischer Gesang sind die Zutaten dieser düsteren Halbballade. Mit der Zeile "This is forever" beweist Cedric bemerkenswerten Weitblick - wenigstens was die Musik von At The Drive-In betrifft.

Anschließend kommt die "Vaya"-EP zu ihren Ehren. Spielfertigkeit nahe an der Perfektion und wahnwitzige Gefühlsbäder im Vierminutentakt künden vom ganz großen Wurf im folgenden Jahr: Das Majordebüt "Relationship Of Command". Natürlich findet sich hier der Salti schlagende Überhit "One Armed Scissor", der den endgültigen Durchbruch in den Mainstream brachte. Wohl auch dank Produzent Ross Robinson (Cedric: "He's very spiritual.") und professioneller Videos.

Die Clips funktionierten aber nicht nur auf der Werbeebene, sondern auch als Plattform für die oft politischen Botschaften der Band. So macht zum Beispiel "Invalid Litter Dept." (DVD-Edition) auf die Hundertschaften spurlos verschwundener Frauen in Mexiko aufmerksam. Ebenfalls atemberaubend, aber im musikalischen Sinn: das pausenlos Seiten wechselnde Entführungsszenario "Enfilade", in dem Protopunk Iggy Pop das Intro raunt. Percussion, Elektronik und ein extraterrestrisches Akkordeon verleihen dem sowieso Grenzen überschreitenden Sound zusätzliche Dynamik.

Teil zwei der CD wartet mit jeder Menge Bonusmaterial auf. Die B-Seiten liefern noch bekannte Kost, dann lässt "Autorelocator" stutzen. Das Drum'n'Bass-Stück vom 1999er Sunshine-Split hat etwas von frühen The Mars Volta, wenn zu fiebrigen Lyrics ein treibender Tanzbeat und hypnotische Gitarren völlig aus dem Ruder laufen. Die Coverversionen von Smiths- bzw. Pink Floyd-Songs geben zumindest nette Beigaben ab.

Essenziell ist "Anthology" trotz allem letztlich nur für Komplettisten. Denn es meißelt auf Kunststoff, was ohnehin felsenfest stand: At The Drive-In schufen mit "Relationship Of Command" gegen Ende der siebenjährigen Bandgeschichte aus den Zutaten Manie, Genie und Wahnsinn ein avantgardistisches Epos, das auch in Zukunft Referenz bleibt.

Trackliste

  1. 1. Fahrenheit
  2. 2. Picket Fence Cartel
  3. 3. Chanbara
  4. 4. Lopsided
  5. 5. Napoleon Solo
  6. 6. Pickpocket
  7. 7. Metronome Arthritis
  8. 8. 198d
  9. 9. One Armed Scissor
  10. 10. Enfilade
  11. 11. Non-Zero Possibility
  12. 12. Incetardis (B-Seite)
  13. 13. Doorman's Placebo (B-Seite)
  14. 14. Autorelocator (Sunshine Split EP)
  15. 15. Rascuache (Remix)
  16. 16. This Night Has Opened My Eyes (Smiths-Cover)
  17. 17. Initation (BBC-Sessions)
  18. 18. Take Up Thy Stethoscope And Walk (Pink Floyd-Cover)
  19. 19. One Armed Scissor (Video)
  20. 20. Invalid Litter Dept. (Video)
  21. 21. Metronome Arthritis (Video)
  22. 22. Operations Manual (EPK)
  23. 23. Discography
  24. 24. Extras

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