laut.de-Kritik

110% Drama, die ganze verdammte Zeit.

Review von

Na also, da haben wir ihn. Den neuen deutschen Popstar Ayliva. Löst das in irgendwem hier gerade irgendwelche starken Gefühle aus?

Zwei Alben lang hat sich jetzt schon angedeutet, dass sie wirklich das Potential für ganz oben mitbringt. Wunderbar, da ist sie jetzt. Sie hat inzwischen den Ariana Grande-Haarschnitt, macht gigantische, die Charts vermöbelnde Duette mit anderen Superstars wie Apache 207, ihre Streaming-Zahlen sind immens. Aber es fällt trotzdem irgendwie schwer, sich vom Mythos Ayliva faszinieren zu lassen. Auch, wenn sie auch mit diesem Longplayer in der zweiten Hälfte zeigt, dass sie mehr als nur Balladen kann, bleibt doch nach drei Alben irgendwie die Gewissheit: Diese Frau wird uns wahrscheinlich nie schockieren, sie wird nichts Unerwartetes tun, sie wird kein Risiko eingehen. Da kann sie noch so kompetent und talentiert sein.

Ich spreche bei den positiven Attributen bewusst von der zweiten Hälfte, denn die erste kann man in der Pfeife rauchen. Als gäbe es nicht eh schon eine halbe Legion Balladiers, die diese Formel Musik so tief in den Boden rammen, dass bald in Australien ein Geysir Pianobeats in den Himmel spuckt. Ayliva, Luna, Rote Mütze Raphi. Kommt man sich nicht irgendwann stumpf vor, wirklich den gleichen Track wieder und wieder aufzunehmen?

"Wind" eröffnet immerhin mit seltsam megalomanischen Allüren: "Ich bin dieser eine Wind, der deine Haut streift / Und wenn es mal regnet, dann bin ich grad am wein'n / Wenn du irgendwo hinfährst, ich schlaf' nicht ein / Ich pass' auf, ich bin da überall". Faszinierend, Gott ist also traurig, wenn man ihm fremdgeht. Weniger faszinierend ist das Piano, das hier klingt, als hätte man einer okayen Schülerin im dritten Jahr Klavierunterricht die Moll-Etüden abgenommen. Mit etwas Zunder und Brimborium zum Finale klingt es dann regelrecht wie ein Harry Potter-Soundtrack.

Den Übergang zu "Traum" hört man kaum, weil beide auf die gleiche Art magisch klingen wollen. Nur wie sie sich mit großer Anstrengung ins Falsetto zwängt, das klingt überraschend unelegant. Auf "Lieb Mich" gleicht sie das zwar mit ein paar sehr soliden Belts aus, aber es hilft alles nichts gegen die unglaubliche Gleichförmigkeit dieses anklagenden Break-Up-Pops. Geweint hat sie an dieser Stelle (Track vier) schon elf mal, es wird nicht weniger werden. Das Piano läuft weiterhin heiß.

Gott sei Dank signalisiert "Nein!" einen Gangwechsel: Erstmals zeigt sie sich nicht in schmerzlicher Kodependenz zu irgendeinem Fuckboy, erstmals kommt ein bisschen Groove ins Spiel. Der Beat geht in die Vollen und rettet sich mit einer kleinen Ecke Coolness vor der Nähe zum handelsüblichen Schlager-Rummelbumsbeat. Vielleicht ist man auch einfach froh, dass die Klaviertasten kurz ruhen dürfen.

Darauf folgen die interessanteren Tracks der Platte: "Hältst Du Mit?" macht Pharrell-eske Percussion gegen einen erfrischenden Girlboss-Track. Der ist auch gut phrasig, aber an dem Punkt ist man einfach froh, wenn Homegirl fünf Minuten über keinen Mann weint. "Wunder" mit Apache ist der große Hit, man versteht auch warum: Die groovenden Keys sind super in das Reggaeton-Instrumental integriert. Der Track fühlt sich lebendig und regelrecht catchy an.

Das maskiert dann auch ganz gut, dass der Apache-Part lowkey lächerlich ist. Im Ernst, so stark der Kerl stimmlich sein mag, er hat es in seiner ganzen Karriere nicht geschafft, einmal glaubhaft so zu wirken, als würde er diese großen, intensiven Gefühle wirklich haben. Er schauspielert das so angestrengt, es klingt superalbern. Außerdem: "Der weiße Lambo steht vor einem schwarzen Haus". Hell yeah, Bruder. S y m b o l i s m. Denkt da mal drüber nach.

"Lilien" ist ein immens stranger Track. Er fängt über diese ominöse, orientalische Drama-Produktion damit an, dass sie beschreibt, wie ein Mann, der sie nicht kennt, überall nach ihrem Namen fragt, überall auftaucht. Und Zack: Plötzlich steht er vor ihrem Fenster. Man denkt noch kurz: Wow, eine Stalker-Geschichte, das ist ziemlich edgy, nicht schlecht. Aber dann die Auflösung: Sie findet das gut. Es ist gar kein Stalker, sondern nur ein Mann, der sich mal angemessen für sie ins Zeug gelegt hat. Soll jeder fantasieren, was er oder sie möchte, aber ein bisschen weird scheint das schon.

"Mörder" endet dann den Block der interessanteren Tracks, damit endlich wieder auf Pianobeats um Kopf und Kragen gebrüllt werden kann. Nicht weniger als ein Mörder ist der Mann, dem das Blut auf die Schuhe tropft, weil er Aylivas Herz in den Händen hält. Jesus Christus. Aber Drama zu mögen, das ist Grundvoraussetzung, um etwas aus diesem Album zu ziehen.

"In Liebe" ist konstant ziemlich drüber. Klar, nicht jeder Artist muss subtil sein, aber dieses Album macht überhaupt keine Atempausen. Alles ist durch die Bank auf 120% - aber weil Ayliva in den meisten Momenten nur die selben zwei Gefühle ins endlose überzeichnet, bleibt das Gesamtprodukt doch wirklich monoton. Es könnte ein klein bisschen Humor haben, ein klein bisschen andere Stimmung.

Es könnte ein klein bisschen weniger um sich selbst kreisen. Aber die Powerballaden sind eben gerade ein großes Meta der deutschen Popmusik. Und je phrasiger und allgemeiner gehalten dieser Herzschmerz verkauft wird, desto mehr Leute werden sich damit identifizieren. Also: Schon verständlich, warum Ayliva so groß geworden ist. Stimmlich und handwerklich hat es drauf. Aber man fragt sich, ob da wirklich noch eine spannende Geschichte in ihr steckt.

Trackliste

  1. 1. Wind
  2. 2. Traum
  3. 3. Lieb Mich
  4. 4. Zwei Wochen
  5. 5. Ben & Jerry's
  6. 6. Beifahrer
  7. 7. Nie Deins
  8. 8. Nein!
  9. 9. Hältst Du Mit?
  10. 10. Wunder (feat. Apache 207)
  11. 11. Lilien
  12. 12. Mein Freak
  13. 13. Mörder
  14. 14. Ersticken
  15. 15. Immer Fehlst Du

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