laut.de-Biographie
Benjamin Clementine
"The future sound of London" werden selbst im Hype-umwobenen Musikbritannien die wenigsten genannt. Mit lediglich einer EP ("Cornerstone", 2013, Behind) als unbekannter Künstler in Jools Hollands Late-Night-Show "Later" eingeladen werden, sämtliche Anwesenden zu Tränen rühren und schließlich als Support von Woodkid mit dem BBC-Orchester auf Tournee gehen? Das macht Benjamin Sainte-Clementine erst recht so schnell niemand nach.
Es ist in erster Linie die unglaublich gefühlsstarke Stimme des Sohns ghanaischer Eltern, die ihn weit vor allen anderen kontemporären Songwritern platziert. Dem ergreifenden Soul des 1988er-Jahrgangs aus Nordlondon entzieht sich niemand: Nach Clementines "Later"-Pianoperformance erntet er gar Lob von Sir Paul McCartney höchstpersönlich. Im Korridor fängt er ihn ab - und bringt zunächst nur ein "Bloody hell!" zustande.
Er solle auf jeden Fall bei der Musik bleiben, lässt McCartney verlauten. Wobei der Sänger so getrieben wirkt, als könne er sowieso nicht anders. "My heart is a mellow drum, a mellow drum in fact / Set alight by echoes of pain 24-7", singt er auf besagter EP, nur um sarkastisch anzufügen: "No I won't complain / Though my good days are far gone / They will surely come back one morn / So I won't complain, no, no."
Der Einzelgänger schreibt seelenschwere Oden an das Leben, an die Hoffnung und wider Einsamkeit und Depression. Woher dieser Schmerz des Künstlers rührt, wird beim Blick auf seine Biografie offenbarer. Als er 2008 im Alter von 19 einen Streit mit der Londoner Mitbewohnerin hat und zu allem Überfluss auch noch die Beziehung zerbricht, flieht er spontan nach Paris. Dort folgen fünf Jahre, mehrere davon ohne Obdach. Als A-Capella-Sänger schlägt sich der Straßenmusiker mehr schlecht als recht durch.
Dann entdeckt ihn ein Repräsentant der Plattenfirma Behind. Erst wird die französische Musikpresse aufmerksam, hiernach geht alles ziemlich schnell. Nach dem bewegenden Auftritt bei Jools Holland unterzeichnet Clementine bei EMI und Universal und zieht 2014 zurück nach London. Dorthin, wo er als Kind und Jugendlicher gegen die strengen Eltern rebelliert und auch in der Schule den Außenseiterstatus innehatte.
Antony Hegarty rettete ihn damals. "Ich erinnere mich genau, wie ich zum ersten Mal seine Stimme gehört habe", erzählt der Mann mit dem niedergeschlagenen Blick. "Ich wusste nicht, ob das ein Mann oder eine Frau war. Ich empfand diese Stimme noch nicht einmal als menschlich. Ich verstand nicht, was er dort tat, aber dass es etwas Faszinierendes war."
Als weitere Inspirationsquellen nennt Clementine, dessen Verehrung für Antony Hegarty jederzeit aus seinem Gesang zu lesen ist, Startenor Luciano Pavarotti und den Komponisten Erik Satie. Insofern könnte er wohl nirgendwo besser aufgehoben sein als hinter dem Flügel, wo er sein Publikum mit einem beeindruckenden Stimmumfang gefangen nimmt, das auch im Opernrahmen hervorragend zum Tragen käme.
Mal tief verletzlich chansonierend, mal aufgewühlt den Soul herausbellend, versichert sich der Londoner seines Rückzugs von der sonstigen Popwelt. "Ganz ehrlich, ich bin nach wie vor mit den meisten modernen Künstlern nicht vertraut. Und ich möchte das erst einmal auch so belassen. Ich glaube, dass das der Grund für meine Originalität ist."
Dennoch erhält sein intimes und zärtliches Debüt "At Least For Now" von 2015 den renommierten britischen Mercury Prize. Die Auszeichnung widmet er den Opfern des Pariser Terroranschlages eine Woche zuvor. In Frankreich prämiert man das Werk mit einer goldenen Schallplatte. Von nun an geht die Karriere des Londoners mit der Turmfrisur nach und nach bergauf.
Er arbeitet mit den Gorillaz für das Album "Humanz", das 2017 erscheint, zusammen. Ebenfalls schaut er sich hinter den Reglern bei Damon Albarn eine Menge ab.
Für das zweite, selbstproduzierte Album "I Tell A Fly", das noch im selben Jahr auf dem Markt kommt, plant er zunächst ein großes Theaterstück, das er aus zeitlichen Gründen wieder verwirft. Zuvor bescheinigt man ihn im amerikanischen Visum ein "Alien mit außergewöhnlichen Fähigkeiten" zu sein. In New York schreibt er an den Texten, in London nimmt er in den RAK Studios auf.
Auf "I Tell A Fly" greift er tagespolitische Themen auf und treibt das Spiel mit den unterschiedlichsten Versatzstücken aus den Bereichen Klassik, Jazz und Pop genial auf die Spitze. Weiterhin arbeitet der Brite an seiner Autobiographie, die vieles Unwahre, was man über ihn geschrieben hat, richtig stellen soll. Den Wanderer mit der markanten Turmfrisur umrankt schließlich seit jeher eine geheimnisvolle Aura.