laut.de-Kritik

Wie der Blick aus dem Auto hinaus ins Schneetreiben.

Review von

Die HexD-Idee etablierte sich in den letzten Monaten im Bandcamp-Untergrund mehr als Technik denn als Genre, die beginnend im Trap-Kosmos seit 2019 Genres infiziert. Klatsch' einfach einen Bitcrusher auf den Master Channel und guck' was passiert, sagten damals die Reptilian Club Boyz, und Gruppen wie Fax Gang entwickelten daraus einen immersiven, abgründigen Anti-Rap. Aber es muss trotz aller Verwandschaft zum Chopped'n'Screwed-Sound nicht nur Hip Hop sein: Einer der großen Produzenten der Bewegung heißt seit Tag eins Bliss3Three. Das enigmatische Musikprojekt hat mit dem "C3l3stial"-Tape die unabdingbare Fusion zwischen HexD und Vaporwave vorangetrieben. "I'm Gonna Miss You" trägt nun die Früchte des Experiments und formt daraus ein abstraktes, kahles Album.

Über neun Songs und nicht einmal eine halbe Stunde Laufzeit samplet Bliss3Three verschiedene Sound-Strukturen ineinander, angefangen von mehreren Erkundungstouren in die richtig staubige Vintage-Kiste. "Halo Shard" zum Beispiel klingt, als würde man einem Frank Sinatra ein exzessives Chopped'n'Screwed-Programm verabreichen. Man fühlt sich an Noise-Electro-Projekte wie "Endless Summer" von Fennesz erinnert, aber auch an die richtig düsteren Abgründe von Houstons 90ern.

Derselbe Effekt tritt auch bei "Carousel. [iv]" ein, einer Nummer, auf der eine monoton pulsierende Kickdrum in einer realen Kreisbewegung durch die Soundbox wandert, umgeben von einem knirschenden und in Verzerrung versengten Oldie, der nach Rummelplatz und ein bisschen nach "Last Christmas" klingt. Die feinen Unterschiede der Technik entpuppen sich im direkten Vergleich der Songs. So homogen "I'm Gonna Miss You" auf einen oberflächlichen Hördurchgang auch anmuten mag, zeigt zum Beispiel der Song "Neo_Venezia", wie unterschiedlich die Resultate der Technik ausfallen können.

Hatten die anderen beiden Songs mit Vintage-Samples noch einen Effekt, der an Vaporwave in einer düsteren und dystopischen Spielart erinnerte, einfach nur, weil das Erodieren von nostalgischem Effekt ein Ding von Vaporwave-Ironie zu sein scheint, entsteht hier etwas ganz anderes. Die Technik klingt erst mal relativ gleich, aber die vergilbte Gondoliere-Musik erfährt weniger Manipulation, nur subtil dringt ein Rauschen und eine Bit-Verzerrung durch das Audiosignal. Bei mehrmaligem Hören kristallisiert sich die Nummer als Ruhepol, als positive Oase in einem relativ finsteren Projekt heraus. Wäre "I'm Gonna Miss You" eine Realismus-Studie des Bioshock-Universums, dann wäre dies die Atempause, klares Wasser, lichter Nebel.

Die verschiedenen Effekte entstehen haptisch, weil schon die simple Veränderung des angegriffenen Frequenzbereichs zu verschiedenen Ergebnissen führt. "~That Brings Me So Much Joy~" lässt genau den Frequenzbereich eines kristallinen, leuchtenden Synthesizers intakt und bringt zwischen mahlendem Noise-Rauschen eine schwerelose Leichtigkeit hervor. Wenn sich diese Bereiche dann in den Songs noch verschieben, dann wirkt es so, als würden die herausgelösten Ohrwürmer und Erinnerungsfetzen halb vergessener Musik stückchenweise ans Licht der Erinnerung treten. Was Bliss3Three mit der HexD-Formel tut, könnte man als eine physische Emulation von Nostalgie beschreiben.

Eine richtige These formuliert die Platte mit dem nihilistisch reduzierten "~Outside The Window There Is Nothing~". Der Song klingt so leer und skeletthaft, man fühlt sich in die Ambient-Genregrenzen des Vaporwave-Baums versetzt, man denkt an das düstere Sci-Fi-Genre des Dreampunks. Klar wird, dass es um Künstlichkeit geht, um den digitalen Raum, um Aufenthalt in Schwellenräumen des Wirklichen. Anders lässt sich der brach liegende Fluss von Hall und Rauschen schwer erklären.

Die Progression findet wie in vielen Songs leise statt, kaum merklich. Aber mehr als auf allen anderen Songs liegen hier Wärme und Kälte nah beieinander, das formlose Voranschreiten des Songs und seiner abstrakten Synthesizer-Verzerrung führt in unbegangenes emotionales Terrain. Und wie so oft will man abschweifen und wird abschweifen, weil das Album so formlos und schwer zu fassen ist. Es hört sich ein bisschen an, wie es aussieht, wenn man nachts aus dem fahrenden Auto heraus ins Schneetreiben schaut. Ein kleiner Lichtpegel als Horizont, die schwarze Straße, die weißen Wehen – und eh Auge und Ohr sich an einem Reiz festhalten können, verwischt er schon wieder.

Aber trotzdem entpuppt sich der Aufbau mit dem Folgetrack "Mirror's Guide" wie als ein kaum aktiv wahrnehmbares Crescendo, das nun seinen Post Rock-esken Pay-Off erfahren soll. Diese zwei Minuten machen den wohl direktesten Impact der ganzen Platte. Der Rest ist kahl, düster und leer und entzieht sich dem aktiven Hören per Design. Aber es lohnt sich, ein bisschen hinter die schroffe Fassade zu dringen. Denn so viele unterschiedliche und emotional einschlägige Momente, wie Bliss3Three auf diesem Album entwickelt, erweitert es das Spektrum des mit der HexD-Formel Machbaren spürbar.

Trackliste

  1. 1. Halo Shard
  2. 2. GOD OF SLEEP
  3. 3. ~That Brings Me So Much Joy~
  4. 4. Neo_Venezia
  5. 5. Carousel. [iv]
  6. 6. Back Door Light
  7. 7. ~Outside The Window There Is Nothing~
  8. 8. Mirror's Guide
  9. 9. Dance With Me

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