laut.de-Kritik

It really, really, really did happen.

Review von

"Ja, ganz bestimmt, ob mit Blur oder The Waeve", so antworte Graham Coxon letztes Jahr auf die Frage, in welcher Form wir ihn denn wohl in Deutschland sehen. Konzert-Termine beider Bands in unserer Heimat blieben jedoch bis heute aus. Frustrierend. Über die genauen Gründe kann man letztendlich nur spekulieren. Das letzte Mal traten Blur vor fast zehn Jahren in der Pro7-Blödel-Show "Circus Halligalli" auf, seitdem muss der deutsche Blur-Fan ins Ausland fahren. So blieb letztes Jahr nur der unverhohlene Neid auf Menschen, die Instagram nonstop mit Fotos und Videos aus Wembley fluteten. "Magisch" seien die Nächte am 8. und 9. Juli gewesen, das alles noch mit unzähligen Tränen-Emojis unterlegt. Wer nicht genügend Geld in die Hand genommen hatte, schaute zähneknirschend auf verwackelte Videos.

"Live At Wembley Stadium" bietet für die damaligen Zauderer und Geringverdiener nun die Chance, diesen speziellen Abend in die eigenen vier Wände zu holen. Ganze 13 Varianten bieten Blur auf ihrer Homepage an. Wer auf Gimmicks wie Retro-Jacke oder ein Poster als Beilage verzichten kann, hat folgende Auswahl: Ein MC oder CD-Set, das die komplette Sonntagsshow vom 9. Juli enthält, eine 3LP-Vinyl-Edition, die ebenfalls die Sonntagsshow enthält, dafür leider das Live-Debüt von "Lot 105" ignoriert und nochmal ein Double-Vinyl mit gekürzter Tracklist. Genau wie die Auswahl der Abspielmöglichkeiten bietet auch die Setlist einen Querschnitt aus den letzten dreißig Jahren.

Blur selber sind ein fragiles Konstrukt, was das nun schon zweite Comeback nach 2015 zeigt. Damon Albarn wiederholte praktisch erneut seine Maulerei der damaligen Reunion-Konzerte: Doof und nervig sei das alles und eigentlich habe er auch schon wieder keinen Bock mehr. Durfte sich das amerikanische Coachella-Festival vor ein paar Monaten noch die geballte miese Stimmung abholen, scheint die Motivation in der britischen Heimat doch höher. Auch wenn Albarn zum Announcement sarkastisch betonte, dass seine ewige Nemesis Oasis das Stadion wahrscheinlich sieben Mal und nicht nur zweimal ausverkauft hätten. Das Thema brodelt scheinbar immer noch in ihm.

Ausgerechnet mit "St. Charles Square" geht der lange Abend los, dem einzigen Uptempo-Song auf dem aktuellen Album "The Ballad Of Darren", bei dem insgesamt die Altersmelancholie im Vordergrund stand. Wer das teilweise behäbige Album nicht mochte, braucht nur noch "The Narcissist" als vorletzten Song anzuhören. Das ähnlich langsame "The Magic Whip" von 2015 fällt sogar komplett raus. Blur wollten der Menge anscheinend doch nicht ihre Midlife-Crisis-Verarbeitung zumuten und lieber die warme Erinnerung an die Jugendzeit anbieten. Der Konzertfilm kommt leider erst im September, aber in den unzähligen, nicht legalen Mitschnitten sieht man Damon Albarn, der bei "Popscene" niedlich unbeholfen noch einmal große Sprünge wagt.

Selbst vor zehn Jahren, als die Bandmitglieder auch schon Mitte 40 waren, wirkte das alles noch deutlich agiler. Egal, das Publikum feiert das freche "Popscene" und natürlich auch die eigenen Jugenderinnerungen. Auch wenn man teilweise doch Angst verspürt, der hüftsteif wirkende Damon könnte seinen Bandscheiben den Rest geben. Mit dem 90er-Beau hat diese Rentner-Version mit fetter Hornbrille jedenfalls nicht mehr so viel gemeinsam. Aber Albarn wird in vier Jahren 60, was sollte man da bitte auch erwarten? Im Grunde geht es bei solchen Events nur darum, die eigene Vergänglichkeit für einen Moment zu vergessen.

Auch Damons Stimme erreicht bedauerlicherweise nicht mehr das Volumen von damals. Er wirkt gerade zu Anfang müde und teilweise abwesend, im Gegensatz zu seinen Bandmitgliedern. Bassist Alex James und Drummer Dave Rowntree scheint ihr Leben abseits der Musikindustrie und im Hintergrund gut zu tun. James ist nur noch nebenberuflich Bassist von Blur und betreibt mittlerweile voller Verve ein Käsegut in der Provinz. Seine fünf Kinder, so gab er in einem Interview freimütig zu, hielten ihn zwar für einen ziemlichen Dödel, aber dank der Wembley-Konzerte wirke er doch fast cool auf den Nachwuchs. Vielleicht lief auch lange nicht mehr "Modern Life Is Rubbish" oder "Parklife". Die aufgekratzten Alben, die den Britpop nachhaltig prägten. Dass durch diese Tür dann auch Oasis mit großen Schritten hindurch schritten, konnte Damon ja nicht ahnen. "Country House", den verhassten Hit, spielen sie trotzdem herrlich schief im Lo-Fi-Style herunter und müssen teilweise selbst lachen, wie sie das Lied, für das sich Damon jahrelang schämte, gegen die Wand fahren. Hinter der fröhlichen Fassade befand sich damals schon ätzender Spott auf die Middle-Class.

"Parklife" hingegen begründete die Freundschaft zu Phil Daniels, der es sich seit Jahrzehnten nicht nehmen lässt, pünktlich das legendäre "Confidence is a preference for the habitual voyeur" zu beginnen. Auch bei ihm saßen die Töne schon mal besser. Was mal als souverän bissig herüberkam, schreit er in das weite Rund des Wembley Stadiums. Klingt fast wie ein Lad aus Manchester, dabei ist Cockney in the house. Ein bisschen zu viel Oi für Blur, die doch immer die feineren Songs im Repertoire hatten. Noch in den Heydays des unerbittlichen Kampfes zwischen Oasis und Blur schaute man auch als Fan der Gallagher-Brüder durchaus beeindruckt auf "Tender", "Beetelebum" oder vor allem "The Universal". Bei einem halbwegs erwachsenen Musikfan lagen damals schon Alben von beiden Bands im Regal, nur Ewiggestrige streiten bis heute in den Kommentarspalten dieser Welt um die Band mit dem größeren Stellenwert.

Das feine Besteck ist "Song 2" bestimmt nicht. Die Grunge-Parodie kommt sogar im Mix dermaßen übersteuert rüber, dass man sich fragt, ob die Leute in Wembley überhaupt noch etwas verstehen konnten. Am Ende der krachigen Nummer sagt Albarn, mittlerweile doch im Set angekommen und zu Witzchen aufgelegt: "Ich zitiere James Rambo nicht häufig, aber ... I feel good". Vor allem Graham Coxon ist in seinem ungestümen Element. Der Gitarrist, den Produzent Stephen Street mal als den besten Gitarristen seiner Generation bezeichnete, darf sich an diesen Abend austoben.

Wenn man überlegt, wie stark die Antipathie zwischen Damon und Graham einst war, ist das doch ein schöner Moment, wie sie wieder wie zwei Schuljungs miteinander flachsen. Von dieser Harmonie profitiert vor allem "Tender". Der London Community Gospel Choir dient natürlich als musikalische, aber auch psychische Verstärkung für die introvertierten Musiker, die den großen Auftritt hasslieben. Auch können Menschen, die am besagten Abend nicht vor Ort waren, nur mutmaßen, was im Endmix noch korrigiert wurde. Gerade die Stadionarchitektur gilt nicht unbedingt als perfekte Voraussetzung für akustische Leckerbissen, die Wembley-Aufnahme hinterlässt aber den Eindruck einer guten Mischung aus klaren Vocals und nicht zu matschigem Sound.

Es bleibt noch hervorzuheben, wie unprätentiös der Auftritt abläuft. Keine Tänzer, keine Lasershow, keine endlosen Politik-Ansagen, keine wechselnden Gaststars und Damon fliegt auch nicht in "The Universal" über die Köpfe der Fans hinweg. Der immer noch allergrößte Übersong des Britpop wird in seinem majestätischen Glanz fast schon zu verschämt vorgetragen. Der Orchester-Sound kommt nur vom Band, dabei wäre doch ein Auftritt des The Royal Philharmonic Orchestra drin gewesen. "The Universal" verfügt natürlich über genügend Magie, um alle hinter dem legendären "It really, really, really could happen" zu vereinen. Der Song war in seiner Intention damals als sarkastischer Kommentar gedacht, bekommt aber in dem Moment eine vollkommen neue Bedeutung.

Das Universum, die Kraft der Musik, sorgt dafür, dass alle noch einmal vereint eine Verbindung zueinander aufbauen. Ja, Liebe kann durchaus auch Depressionen und Dämonen heilen, auch die von Albarn. Der wollte den Song damals gar nicht veröffentlichen, auch weil Coxon den überirdischen Streicher-Part verabscheute. Man sieht: Damon verfügte damals schon über kein gutes Selbstwertgefühl und nicht einmal 150.000 in Wembley reichen aus, damit dieser Mann erkennt, was er eigentlich so vielen Menschen auf dem Planeten gegeben hat.

Trackliste

  1. 1. St. Charles Square
  2. 2. There's No Other Way
  3. 3. Popscene
  4. 4. Tracy Jacks
  5. 5. Beetlebum
  6. 6. Trimm Trabb
  7. 7. Villa Rosie
  8. 8. Stereotypes
  9. 9. Out Of Time
  10. 10. Coffee & TV
  11. 11. Under The Westway
  12. 12. End Of A Century
  13. 13. Sunday Sunday
  14. 14. Country House
  15. 15. Parklife
  16. 16. To The End
  17. 17. Oily Water
  18. 18. Advert
  19. 19. Song 2
  20. 20. This Is A Low
  21. 21. Lot 105
  22. 22. Girls & Boys
  23. 23. For Tomorrow
  24. 24. Tender
  25. 25. The Narcissist
  26. 26. The Universal

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4 Kommentare

  • Vor 3 Monaten

    Eine wirklich fantastische Rezension. Chapeau, dem ist nichts hinzuzufügen.

    Einziger bitterer Nachgeschmack ist nur wie bereits erwähnt die Tatsache, das Blur seit Ewigkeiten nicht mehr in Deutschland waren. Das haben sie mit Oasis gemeinsam ;)

    Aber die 3LP-Version ist schon genial, ein Platz unter meinen Top-10-live-Alben ist sicher.

    Fanboy-Geschreibsel hört nun auf :)

  • Vor 3 Monaten

    Kleine Anmerkung: Die kleine Vinyl Ausgabe ist ne Mischung aus dem Samstag und Sonntag Konzert ;)

    Zum Konzert selber: War magisch und die Reise wert. Das jetzige Live Album ist eine wunderschöne Erinnerung daran.

  • Vor 3 Monaten

    Bisserl musikmythologisch aufgeladen, der Artikel. Albarn hatte die aufgespielte Rivalität zu Oasis immer sehr ironisch behandelt. Glaube kaum, dass ihn die Gallagers tatsächlich triggern. Ansonsten viel, was man halt sonst so über Blur labert. Vielleicht geb ich mir die Plattr bei Gelegenheit, aber gerade Albarn enttäuscht schon seit langer, langer Zeit. Wenn er dann wenig Lust hat, wird sie mir wahrscheinlich auch schnell vergehen...

  • Vor 3 Monaten

    Ich war 2013 beim Berlin Festival zum Glück dabei. Live waren sie schon immer besser als Oasis, Album-technisch sowieso. Aber Blur Live... nach Live At Budokan und Hyde Park jetzt schlussendlich das dritte Live-Album mit derselben quasi Set List aber merklich gealterten Mitgliedern. Nur melken sie jetzt ihre mittlerweile zu Geld gekommene Anhängerschaft konsequent mit jeder Menge unterschiedlicher Fan-Boxen :-). Immerhin ist die Jacke schon ausverkauft.