laut.de-Kritik

Wenn Töne wie Feuerwerkskörper explodieren.

Review von

Iron Maiden-Frontmann Bruce Dickinson zu Ehren wurde eine neu entdeckte Echsenart "Enyalioides dickinsoni" benannt. Eine Enyalioides dickinsoni hat einen orangefarbenen Kopf, kurze Beine und einen grünen Körper. Von diesen bunten Merkmalen abgesehen, sind die Tiere widerstandsfähig und wollen in ihrem nächtlichen Habitat aus Bäumen und Ästen hoch hinaus. Alles Attribute, die auch Dickinson auszeichnen; ein Mann der in unterschiedlichen Professionen wie Pilot, Fechter oder eben Sänger die Meisterschaft erlangt hat.

Die Schaffenspause seiner Stammband und die Pause in den unermüdlichen Touraktivitäten nutzt der 65-jährige Frontmann für die Veröffentlichung seines siebten Soloalbums "The Mandrake Project". Die Arbeit daran erstreckte sich über einen Zeitraum von 20 Jahren, liegt der Release des Vorgängers "Tyranny Of Souls" doch mittlerweile 19 Jahre zurück.

"The Mandrake Project" ist ein ambitioniertes Unterfangen: die zehn neuen Songs bettet Dickinson in ein übergeordnetes Konzept ein, das von einer Comic-Serie flankiert wird. Auf Tobias Sammets Reaktion warten wir noch gespannt; immerhin hieß das Werk "Mandrake" von seiner Spaßmetal-Truppe Edguy recht ähnlich.

Die je nach Standpunkt kreative wie geschäftstüchtige Herangehensweise stellt ein Novum im Arbeiten von Dickinson dar. Hinsichtlich der Produktion und des Songwritings setzt er auf bewährte Kräfte. Die 1998 mit "Accident Of Birth" etablierte Kollaboration mit Roy Z führt Dickinson fort. Insbesondere die seitdem erschienenen Platten - neben dem erwähnten "Accident Of Birth" sind dies "Chemical Wedding" und "Tyranny Of Souls" - bilden das Fundament des Sounds. Hinzu gesellt sich die Experimentierfreude von "Balls To Picasso" und Bruce gewachsenes Selbstverständnis als Komponist, was er insbesondere auf Maidens "The Book Of Souls" und der orchestralen Klangreise "Empire Of The Clouds" unter Beweis gestellt hat.

Was Bruce in "Mistress Of Mercy" gesanglich abliefert rechtfertigt den Spitznamen "Air Raid Siren" zu jeder Sekunde. In jedem Ton hört man förmlich einen Feuerwerkskörper explodieren. Der Refrain ist ein Fest für alle Fans der schnelleren und kompakten Stücke, denen Dickinson seine Stimme geliehen hat, wie "Aces High", "Moonchild" oder "The Trooper". Roy Z grundiert als musikalischer Partner die Strophen mit einem grollenden Riff.

Dieses Licht-Schatten-Duell findet sich ebenfalls in der Vorabsingle "Afterglow Of Ragnarok". Roy Z legt das Riff in das Untergeschoss des tiefen H, was eine andere Atmosphäre kreiert als es die jungfräulichen Standard Tuning-Verfechter pflegen. Die Tonfolge fällt dabei eher generisch als genial aus, dient Dickinsons artistischen Vokal-Einlagen.

Seiner Liebe zum Hardrock britischer Prägung à la Deep Purple frönt Dickinson in "Many Doors To Hell". Keyboarder Mystheria legt Lordsche Orgelschwaden unter die brummenden Gitarren, während die Stimme einmal die Register des technisch Machbaren durchmisst. Am Grab des Dichters William Wordsworth kam dem literarisch interessierten Musiker die Idee zu "Rain On The Graves". Die bluesige Midtempo-Anlage des Tracks sowie die theatralische Vocal-Performance wirken ungewöhnlich. Der Refrain mit seinen Repetitionen wirkt wie eine Persiflage auf die Steve Harris-Hooks, die vor Wiederholungen nur so strotzen.

Nach dem erwartbaren Einstieg zündet Dickinson die kreative Kerze an. "Resurrection Man" reitet zu Morricone-Klängen dem Sonnenuntergang entgegen. Das auf "The Book Of Souls" bereits verwendete "If Eternity Should Fail" heißt hier "Eternity Of Failed" - übrigens auch eine Textzeile aus "Resurrection Man" - und fährt statt den Harris eigenen Keyboard-Klimpereien einen echten peruanischen Panflötenspieler auf. In der Version auf "The Mandrake Project" drosselt Dickinson zudem das Tempo und gestaltet den Solopart ausufernder und variabler.

"Fingers In The Wounds" und "Face In The Mirror" fallen auf die je eigene Art balladesk und reduziert aus, eine willkommene Abwechslung zu den überlangen Ausflügen, die in den beiden abschließenden Epen "Shadow Of The Gods" und "Sonata" ihre Vollendung erfahren. "Shadow Of The Gods" war ursprünglich für das Three Tenors Projekt geplant, dessen Realisierung aufgrund des Ablebens von Ronnie James Dio nie geklappt hatte. "Sonata" stammt noch von einem Demo und wäre ohne das Zutun von Dickinsons aktueller Lebensgefährtin nicht auf dem Album gelandet, die ein Demo des Liedes in die Finger bekam und ihrem Gatten fortan im Ohr hing, er solle dieses Stück Musik doch bitte der Welt präsentieren.

Bruce Dickinson ist ein begnadeter Sänger mit überbordender Fantasie, Roy Z ein begnadeter Gitarrist mit einem besonderen Gespür für Texturen, der immer den besten Zuschnitt auf die Stimme seines Kompagnons findet. Beides reicht aus, um ein Metal-Album zu kreieren, das zum besten im klassischen Heavy Metal-Sektor in diesem Jahr zählen dürfte.

Trackliste

  1. 1. Afterglow Of Ragnarok
  2. 2. Many Doors To Hell
  3. 3. Rain On The Graves
  4. 4. Resurrection Men
  5. 5. Fingers In The Wounds
  6. 6. Eternity Has Failed
  7. 7. Mistress Of Mercy
  8. 8. Face In The Mirror
  9. 9. Shadow Of The Gods
  10. 10. Sonata (Immortal Beloved)

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6 Kommentare mit 6 Antworten

  • Vor 8 Monaten

    Alles schön und gut, aber wo bleibt die Everything Everything Rezi...

  • Vor 8 Monaten

    Mit Abstand seine schwächste Solo LP. Nach alle den Jahren hätte ich mehr erwartet, als Maiden Ausschussware. Im direkten Vergleich hat Blaze Bayleys neue Platte locker die Nase vorn.

  • Vor 8 Monaten

    blaze bayley??? das war doch der hobbysänger von V11 und x factor, oder?? Dann muss die scheibe hier ja schrecklich sein....

  • Vor 8 Monaten

    DUmmgelaber - die Scheibe ist die Platte des Jahres. Schlägt alles von Maiden seit 1988

  • Vor 8 Monaten

    Super-Scheibe mit viel Abwechslung. Bruce ohne Maiden ist einfach viel besser und einfallsreiche. Mit Roy Z hat er einen kongenialen Partner.

  • Vor 8 Monaten

    Die Platte hat ohne Zweifel ihre Momente. Bruce ist ein großartiger Sänger, der mit Iron Maiden einige der geilsten Metal-Platten ever abgeliefert hat. Aber seine Solo-Sachen zünden bei mir einfach nicht so. Solide gespielt, gut gesungen - aber irgendwie fehlt mir immer was. Auf seinem neuen Solo-Album überzeugt mich Air Raid-Bruce nur mit "Many Doors to Hell", "Rain on the Graves" und "Afterglow of Ragnarök". Der Rest ist sicher gute Handwerksware, aber haut mich nicht wirklich vom Schemel.
    Ich stehe hier vor demselben Problem, das ich mit Iron Maiden seit mehr als 20 Jahren habe: Da sind exzellente Musiker am Werk, aber das Feuer im Bauch der Songs ist irgendwie nicht mehr da. Kein Wunder, dass live die alten Klassiker am besten zünden. Vielleicht mal auf die Kernkompetenz besinnen: virtuose 4- bis 6-Minüter mit geilen Melodien raushauen und nicht proggy sein, wenn man im Kern keine Prog-Truppe ist.