laut.de-Kritik

Fausthieb ins Gesicht des Fans.

Review von

1990 besuchte ich das erste Konzert meines Lebens, Depeche Mode in Stuttgart. Prägend, natürlich. Mit Camouflage habe ich bis dahin einiges gemeinsam: Wie ich finden sich die Bietigheimer an diesem Oktober-Abend in der Schleyerhalle ein, wie ich eifern sie den Synth-Pop-Maestros in ihrer eigenen Band konsequent nach und siehe da, auch Camouflage-Sänger Marcus Meyn sicherte sich am Merch-Stand erst mal das legendäre World-Violation-Longsleeve mit den bedruckten Rosen auf den Ärmeln. Nachzusehen im Booklet des vorliegenden Re-Releases von "Meanwhile", ihrem dritten Studioalbum von 1991.

Hier enden dann auch die Gemeinsamkeiten. Denn im Gegensatz zu mir trägt Meyn das edle Textil in einem Tonstudio südlich von London auf, wohin es die Schwaben nach den gigantischen Erfolgen ihrer ersten beiden Alben gespült hatte, während ich mich beim Passieren der Schulhof-Raucherecke von der Metal-Fraktion demütigen lasse. Camouflage waren dort, wo meine Band nie hinkommen sollte: Als German Act ganz oben in den US-Billboard-Charts, ein zweites Album mit einem zweiten Hit ("Love Is A Shield") - alles war vorbereitet, um so richtig ins neue Jahrzehnt abzuheben.

Stattdessen bremst "Meanwhile" die Camouflage-Karriere hart aus, und zwar so richtig. Ein in der Rückschau übrigens vorbelasteter Albumtitel, denn so hieß 1990 auch das gnadenlos gefloppte Debütalbum von H.P. Baxxters Synthie-Band Celebrate The Nun. Aber Spaß beiseite: Dass man Camouflage in Artikeln bald nicht mehr als Chartstürmer bezeichnete, klang schon im Opener an: "Seize Your Day" eröffnet mit echten Drums, echtem Bass, Klavierakkorden und Geigen, und als dann irgendwann endlich Meyns Stimme erklingt, ist diese auch noch seltsam in den Hintergrund gemischt. Zu allem Überfluss vermittelt der Song so etwas wie Jamcharakter - Jammen? Musik mit echten Instrumenten? Zu Hülf!

"Meanwhile" verstößt auch im weiteren Verlauf nach allen Regeln der Kunst gegen die reine Lehre des Synthie-Pop - und das mit Vorsatz. Nach dem plötzlichen Ausstieg von Olli Kreyssig wollen es Meyn und Keyboarder Heiko Maile 1991 allen Kritikern beweisen. Gleichzeitig schwebt ihnen ein neuer, organischer Band-Sound vor. Die Budgets sind gut, die Kontakte dem erreichten Status angemessen: Eine erhoffte Zusammenarbeit mit Ultravox-Ikone Midge Ure verläuft nach einem Treffen im Sand, aber Produzent Colin Thurston (Talk Talk, David Bowie) steht gerne parat. Im Laufe der Sessions ruft er gar mal kurz bei Paul McCartney durch, ob der nicht kurz Zeit hätte für einen Basslauf. Hat er dann leider nicht, wie Meyn in den schön anekdotisch gehaltenen Liner Notes erzählt.

Die Fab Four sind trotzdem allgegenwärtig: "Mother" beginnt mit dem legendären "A Hard Day's Night"-Anfangsakkord, das tolle "This Day" lehnt sich an "She Said She Said" an. Interessant ist das sublime, auf einem nackten Rhythmusskelett gedeihende "Waiting" mit, tatsächlich, ausladendem Gitarrensolo. Damals nichts weniger als ein Fausthieb ins Gesicht der Fans. Hierzu sei noch "Dad" genannt mit einem Lisa-Simpson-mäßigen Saxofonsolo. Hört man nun die der Jubiläumsedition beigefügten Demos, staunt man nicht schlecht, wenn etwa das erwähnte "Waiting" tatsächlich als Synth-Track der Marke "Methods Of Silence" ins Leben fand. Maile und Meyn hatten mit diesem Sound-Template allerdings abgeschlossen.

Mit der Distanz von 30 Jahren kann man "Meanwhile" wunderbar durchhören. Es zeigt eine Band, die ihren bekannten Stil radikal umkrempelt, ohne jegliche Rücksicht auf Verluste. Und die kamen dann auch. Denn für die unerwartete Verwandlung von Camouflage in die Jeremy Days fehlte der Anhängerschaft 1991 das Verständnis (auch für einen Macca-Basslauf). Ich weiß, wovon ich spreche. Bei der Klassenfahrt nach Bonn laufe ich enttäuscht an den "Meanwhile"-Plakaten des örtlichen Plattenladens vorbei und greife stattdessen zu The Invincible Spirit und was damals noch groß angesagt war in den Wave-Discos.

Sänger Meyn, Anfang der Nullerjahre Marketing-Manager bei Sony Music, sah das Album rückblickend aus einer distanzierteren Perspektive: "Unser größter Fehler war bestimmt, den rein elektronischen Weg mit unserem dritten Album zu verlassen. Obwohl es in sich ein schönes Album ist. Heute weiß ich, dass es die Aufgabe des A&R-Managers gewesen wäre, uns darauf aufmerksam zu machen."

"Meanwhile" klingt mal herzerwärmend ("This Day"), mal orientierungslos ("What For"), bisweilen befremdlich ("Where The Happy Live"), die Produktion aus heutiger Sicht etwas hüftsteif, rein elektronische Tracks wie gesagt kaum vorhanden ("These Eyes", "Bitter Sweet"). Mit "Heaven (I Want You)" befindet sich allerdings auch einer der drei besten Camouflage-Songs ever auf dem Album. Minimalistisch on point arrangiert, großartiges Songwriting, eingängiger Refrain, die Beatles-Einflüsse verhalten integriert: Der Hit des Albums, der keiner wurde. Nerd Talk: Im "Heaven (Club Mix)" ab 3.22 verbauten sie eine Hommage an den Höhepunkt der 1990er Liveversion von "Enjoy The Silence", ein Break mit Martin Gores Sologitarre, das in ein Synthie-Meer mündet. "Meanwhile" ist sicher nicht das Album, das aus ihrem Katalog heraus sticht, aber insgesamt eine lohnenswerte Wiederentdeckung.

Trackliste

CD1

  1. 1. Seize Your Day
  2. 2. Heaven (I Want You)
  3. 3. Mellotron
  4. 4. Mother
  5. 5. Dad
  6. 6. Where The Happy Live
  7. 7. These Eyes
  8. 8. What For
  9. 9. Waiting
  10. 10. Accordion
  11. 11. This Day
  12. 12. Handsome
  13. 13. Bitter Sweet
  14. 14. Spellbound
  15. 15. Who The Hell Is David Butler?

CD2

  1. 1. Mother (Electronica Mix 2020)
  2. 2. Waiting (Demo)
  3. 3. Spellbound (Demo)
  4. 4. Seize Your Day (Demo)
  5. 5. Bitter Sweet (Demo)
  6. 6. Who The Hell Is David Butler? (Demo)
  7. 7. Riding With Lawrence (Demo)
  8. 8. Finally Writing (Demo)
  9. 9. Lonestar Karma (Demo)
  10. 10. Missing Mark (Demo)
  11. 11. Quest For A Cure (Demo)
  12. 12. Towers (Demo)
  13. 13. Heaven (Club Mix)
  14. 14. Heaven (Club Too Mix)
  15. 15. Handsome (Mosaic Remix)
  16. 16. Handsome (Psycho-Ray-Mix)
  17. 17. Handsome (Slow-Motion-Mix)
  18. 18. Handsome (Live 2000 preparation)

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