laut.de-Kritik

Der Gegenentwurf zur Edelanzugs-Ära.

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Als der Frühsommer '97 zum ersten Mal die 20 Grad-Marke überschritt, heizte Puff Daddy mit dem Motorrad durchs MTV-Programm und trauerte um seinen dicken Kumpel Notorious B.I.G. Der war im März desselben Jahres auf dem unrühmlichen Höhepunkt des sogenannten Eastcoast-Westcoast-Kriegs in Las Vegas erschossen worden, beendete aber mit seinem Tod immerhin indirekt diese unsinnige, vom Geld und der Mafia getriebene Auseinandersetzung.

"I'll Be Missing You" hieß Puffys Tributsong und Welthit, der mit Faith Evans im Chorus den alten Police-Klassiker "Every Breath You Take" auf Club pimpte. Der umstrittene Bad Boy-Manager – als Geschäftsmann die Tragödie ausnutzend – gab den harmoniesüchtigen, streitmüden Mainstream-Fans zusammen mit Mase und anderen Chanteusen eingängigen Top-Notch-Pop-Rap mit Alle-haben-sich-nun-lieb-Botschaften.

Der Rap-Beef mochte vielleicht vorbei sein, der wahre Krieg, der auf den Straßen und in den Ghettos, tobte jedoch weiterhin. "There's a war going on outside, no man is safe from", rappte Mobb Deeps Prodigy bereits 1995. Die fortschreitende Gentrifizierung in New York, die Zero Tolerance-Politik von Bürgermeister Rudolph W. Giuliani, Polizeigewalt inklusive, rechte Medien wie Fox News und der normale Drogenwahnsinn am Block schrien 1997 förmlich nach einem musikalischen Gegengewicht, nach Straßenreportern aus Queens, nach einem afroamerikanischen CNN, nach: "The War Report" - mit Capone 'n Noreaga, dem ehemaligen Unsigned Hype aus der Source, an vorderster Front.

Das "Intro" schleppt sich durch die Boxen, auf dem Cover geht die verblichene Sonne hinter der Manhattan Skyline auf und die beiden letzten Mohikaner in Camouflage blicken auf ihre Stadt. Der Morgen beginnt jedoch sofort mit "Blood Money" und einem einsam im Zwielicht klimpernden Piano Man am Hudson River. Nach einigen Sekunden drückt der brutal schlagende Ez Elpee-Beat den Verkehr unaufhaltsam durch die verstopften Straßen, und als ein total aufgedrehter Noreaga vom "illegal life, watch police on bikes" krakeelt, erwacht die Stadt: "New York get the bloody money, dirty cash / live niggas who smoke weed, car seat stash."

Die Zeiten sind hart, trotzdem sitzt man auch in der Hood lieber im "Drivers Seat", statt nur Mitläufer zu sein. Der dritte Track bringt - überraschend früh und für lange Zeit zum letzten Mal - so etwas wie Optimismus und Sonnenschein ins Leben am Block. Soulige, warme Chöre ummanteln den Daddy auf einmal wie abgewetzte Lippen im Puff. Dieser befindet sich jedoch in einer heruntergekommenen Wohnung im Parterre, denn bei Nores Gebrüll und den dreckigen Doppeln bleibt trotz Chillmodus' und Vocal-Loops jede Hoffnung im Halse der Hure stecken. "I keep it real wit a bitch that keep it real wit me / Cut the hand off a chicken tryin steal from me."

Nach dem Puffbesuch und dem Cruisen durch die schwülwarmen Straßen dämmert es. Die Nacht bricht brutal herein. "Stick You" ist böse, die Piano-Loops sind böse, und zum ersten Mal greifen Capone und Tragedy Khadafi richtig in den "War Report" ein.

Capone spielt erst jetzt eine Rolle, da er 1996 mitten im Aufnahmeprozessen hinter Gitter wandert und so einige Songs ohne seine Verse auskommen müssen. "Während der Arbeit am Album musste ich in den Knast. Ich kannte meinen Termin und versuchte, im Studio die Spannung hochzuhalten und meine Verse abzuliefern. Trotzdem fragte ich mich: Warum mache ich das? Ich gehe doch sowieso bald ins Gefängnis", so Capone später gegenüber MTV News.

Tragedy Khadafi gilt in Queens dagegen bereits als heimliche Legende, fungiert als Schirmherr, füllt die Lücke, die Capone ein ums andere Mal hinterlässt und avanciert mit knallhartem Flow zum heimlichen Star. Trag ist es auch, der auf "Stick You" mit Zeilen wie "CNN, desert men, holding the chrome with gorilla grip" und "from fourty one - twelve, to the U.S.A. buiding in Iraq" die Büchse der Referenz-Pandora öffnet. Tenor: In Queens ist es so gefährlich wie im Irak, man kämpft als "Arab Nazi" ständig auf Leben und Tod.

War Staten Island für den Clan – noch recht popkulturell tauglich - das Shaolin, halten die Nachbarn von Mobb Deep Queensbridge bereits für die "Hell on Earth". Dort sind die "Parole Violators" auf der Flucht. Die Luft vibriert, die Drums, dieses Mal von Tragedy selbst, wirken wüstensandtrocken. Auch wenn der heutige Irak sicher um einiges krasser ist als das gentrifizierte New York 2014, brauchte man damals die Kunst der Provokation, um auf das Sterben vor der Haustür aufmerksam zu machen. Oder, um es mit einem Zitat aus dem ultrahart nach vorne walzenden "Neva Die Alone" zu sagen: "Saudi-Arabia, Sadam Hussein / president of what I claim."

"Iraq (Sees The World)" formuliert dann endgültig den Schrei nach Aufmerksamkeit, frei nach Ernst Reuter: "Ihr Völker der Welt schaut auf dieses Land." Ihr Weißen, schaut auf diesen Stadtteil. Der Fernsehsender CNN berichtete ja damals lieber mit grünen Nachtbildern im Sinne der Regierung über Raketenangriffe (1991) oder die folgenden Schandtaten Saddams. Um als wahrer CNN-Sender wahrgenommen zu werden, schrecken die Jungs in ihrem – paradoxerweise - größten Hit "T.O.N.Y" nicht vor Anbiederung an Puff Daddy zurück. Ja, genau jener anfangs erwähnte Glitzer-Glamour-Kollege, dessen Gegenentwurf sie eigentlich sein wollten, verhilft Capone und Noreaga zum nationalen Durchbruch.

"Zur gleichen Zeit, wie wir die Single droppten, dominierten Puffy und seine Edelanzugs-Ära. Alle wollten ihre Rolex und Ringe in den Himmel werfen. Wir jedoch waren das genaue Gegenteil, mit unseren Army-Anzügen, den Timberlands und Hoodies. Das Verrückte daran ist, dass Nashiem Myrick und Carlos Broady beides Bad Boy-Produzenten waren, und der Song sogar bei Puff Daddy im Studio aufgenommen wurde", erinnert sich
Noreaga für einen Making Of-Artikel im Complex Magazine. Capone ergänzt: "Der Beat hat ein bisschen was von Biggie und Puffy in sich." In der Tat erhebt sich der bombastische "Life After Death"-Sound mit den harten, hektischen Reimen zu einem absoluten Killer-Tune.

Der zweite Stand Out-Track des Albums, "L.A. L.A." als Kuweit-Remix beantwortet Dogg Pounds "New York, New York", in dessen Video Snoop, Daz und Kurupt im November 1995 mitten im Big Apple fronten und ein überlebensgroßer Snoop auch noch die Gebäude eintritt. Zwar lebten 2Pac und Biggie zu diesem Zeitpunkt noch, doch 2Pac war bereits angeschossen worden, und der Track heizte die vergiftete Atmosphäre zwischen seinen Death Row-Kollegen und diversen New Yorker-Rappern weiter an.

Noreaga fasst die verrückte, aber extrem gefährliche Situation vier Jahre später in einem Interview mit kronick.com zusammen: "Kurupt vom Dogg Pound ist mein engster Freund in L.A. (...) Er wollte New York nicht wirklich dissen, genauso wie wir L.A. nicht wirklich an den Karren pissen wollten. Wir wussten aber, dass dies unsere Chance war, die Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen (...) Ich war immerhin pleite und abgefuckt damals. (...) Aber wir haben während des Beefs nicht geredet, denn wir standen trotz Freundschaft kurz vor einem echten Krieg. Dann hätte aus Los Angeles keiner mehr zu uns kommen können und umgekehrt."

Die musikalische Zuspitzung des Eastcoast/Westcoast-Beefs entbehrte beim Release der Original-Version von "L.A. L.A." im Januar 1996 ergo nicht einer gewissen Absurdität. Anderthalb Jahre und zwei tote Emcee-Legenden später taugt der Track zum Glück nur noch als Zeitdokument und mit seinen unaufhaltsam nach vorne treibenden Marley Marl-Drums zum gern gesehenen Gast in Autoradios, iPods und bei Hauspartys. Genau wie "The War Report" als gesamtes Album.

Die politische Sprengkraft ihres Debüts verschwand in den folgenden Jahren aus dem Sound von Noreaga und Capone. Nore beherrschte Ende der 90er dank Neptunes-Beats solo die Clubs, während Capone wieder in Haft musste. Giulliani hatte mit seiner Polizei New York unter seine Kontrolle, die Mieten stiegen weiter. Zwar übernahmen neben Nore die Ruff Ryders mit aggressiven Tracks das Ruder und Labels wie Rawkus setzten auf kritische Lyrics, doch sozialpolitische Sprengkraft von den Straßen suchte man vergebens. Rapper wie Mos Def sprachen eher die Akademiker an und die DMX-Posse haute lieber den Soundtrack zum Überleben des täglichen Wahnsinns unters gierige Volk als jene Reportagen aus dem Kriegsgebiet im Sommer 1997.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Intro
  2. 2. Bloody Money
  3. 3. Driver's Seat
  4. 4. Stick You
  5. 5. Parole Violators
  6. 6. Iraq (See The World)
  7. 7. Live On, Live Long
  8. 8. Neva Die Alone
  9. 9. T.O.N.Y. (Top of New York)
  10. 10. Channel 10
  11. 11. Capone Phone Home (Interlude)
  12. 12. Thug Paradise
  13. 13. Capone Bone
  14. 14. Halfway Thugs
  15. 15. L.A. L.A. (Kuwait Mix)
  16. 16. Capone-N-Noreaga Live (Interlude)
  17. 17. Illegal Life
  18. 18. Black Gangstas
  19. 19. Closer
  20. 20. Capone Phone Home (Outro)

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