laut.de-Kritik
Ein unkonventionelles, die Grenzen des Jazz' sprengendes Werk.
Review von Toni HennigIn den 60er-Jahren fusionierten Bands wie Cream in Großbritannien Jazz und Rock. Ihr E-Bassist Jack Bruce trug ebenso zur Entstehung von "Escalator Over The Hill" bei wie der Gitarrist John McLaughlin, der gemeinsam mit Miles Davis und vielen weiteren Solisten auf "Bitches Brew" von 1970 die Genres zusammenführte. Auch die am 11. Mai 1936 in Oakland als Lovella May Borg geborene Komponistin, Pianistin und Organistin Carla Bley hatte sich mit ihrer Musik der Grenzenlosigkeit verschrieben. Nur dachte sie noch um einige Dimensionen größer.
Dass sich das rund zweistündige Album jeder Kategorisierung entzieht, dafür sorgt das Jazz Composers Orchestra mit exzellenten Musikern wie Posaunist Roswell Rudd und Tenorsaxofonist Gato Barbieri. Zu Beginn stellen die beiden Virtuosen in der dreizehnminütigen "Hotel Overture", ein radikales, atonales Free Jazz-Stück, ihre Fähigkeiten an ihren Instrumenten fulminant unter Beweis.
Das Jazz Composers Orchestra war die Big Band der Jazz Composers Guild, einer Vereinigung unabhängiger Musiker aus New York, die sich für bessere Arbeitsbedingungen und Vergütungsmöglichkeiten ihrer Mitglieder einsetzte. Bley, die es 1953 in die kreative Millionenmetropole verschlug, sowie ihr zweiter Ehemann, der Wiener Komponist, Trompeter und Pianist Michael Mantler, gehörten ebenfalls dieser Organisation an. Sie zerbrach 1965 wenige Monate nach ihrer Gründung.
Aus ihr ging 1966 die Vertriebsfirma Jazz Composers Orchestra Association (JCOA) hervor. Die US-Amerikanerin rief sie ins Leben, um unabhängig von kommerziellen Zwängen ihre Arbeiten zu vermarkten. Von nun an hatte sie die alleinige künstlerische Kontrolle über ihre Musik.
Das Jazz Composers Orchestra beteiligte sich darüber hinaus an ihrer ersten Suite "A Genuine Tong Funeral", die sie zwei Jahre später für Gary Burton komponierte. Die Big Band, die sie zusammen mit Michael Mantler leitete, setzte wegen ihrer einfallsreichen Spieltechnik auf diesem Werk neue Maßstäbe im Free Jazz. Auf "Escalator Over The Hill" formierte sie die 'Hotel Lobby Band'. Bley räumte ihr auf dieser Platte sämtliche Freiheiten ein, ihre Ideen ohne jegliche Kompromisse zu verwirklichen.
Im Titeltrack, der wie eine avantgardistische Jazz-Version der Dreigroschenoper von Kurt Weill und Bertolt Brecht anmutet, hört man daher schiefe Chorgesänge und eine schräge Bläsersektion. Im weiteren Verlauf der Scheibe teilt sich die neunzehnköpfige Big Band in kleinere und größere Besetzungen auf.
Vor allem die markanten Blechbläser verweisen oftmals auf die frühe Jazz-Tradition in New Orleans in den 20er-Jahren. Dagegen erinnern die theatralischen Gesänge an die Kunstmusik in Europa. Deswegen kann man das Album als ein langes Theaterstück betrachten, das einer speziellen Eigendramaturgie folgt. Komik verwandelt sich demzufolge schlagartig in Melancholie auf dieser Platte. In der Fachpresse titulierte man dieses Werk auch als Jazz-Oper.
In der "Stay Awake" stemmt sich Carla Bley, die sich auf dem Album überwiegend als Pianistin betätigt, mit ihrer Stimme gegen die düsteren und gespenstischen elektronischen Klänge von Michael Mantlers Phantom Band. Eine schlechte Figur am Mikro gibt sie in dem Song keineswegs ab. Dennoch kann man sie sich schwer als klassische Jazz-Vokalistin vorstellen.
Ohnehin befasste sie sich, als sie an "A Genuine Tong Funeral" arbeitete, mit moderner Rock- und Pop-Musik. Als ihr der amerikanisch-kanadische Beat-Poet Paul Haines daraufhin einige seiner Arbeiten zusandte, entschied sie sich, Elemente aus diversen Genres auf "Escalator Over The Hill" zu einem Gesamtkunstwerk zu kombinieren.
Sämtliche Texte für das Album, das den Untertitel "a chronotransduction" trägt, stammen aus der Feder des Dichters. Sie nehmen Bezug auf die dadaistische Lebensweise mehrerer Personen in einem Hotel in Indien, das er zeitweilig bewohnte. Niemand weiß bis heute, was er mit seinen Worten vermitteln will. Nicht einmal Carla Bley. Im Grunde malt sich jeder Hörer die Geschichte dieser Scheibe anders aus. Eine Anleitung, wie man dieses Werk zu konsumieren oder zu rezipieren hat, existiert nicht.
Demgemäß ziehen sich hörspielartige Versatzstücke, die von der 'Original Hotel Amateur Band' stammen, wie ein roter Faden durch diese Platte. In "Over Her Head" wiederholt die ausgelassene Tuba-, Horn-, Trompeten- und Posaunensektion bestimmte Leitmotive des Albums. Dadurch entfaltet das Stück ein einnehmendes Potential. Kurzum nistet sich so manche Passage auf diesem Werk dauerhaft im Gedächtnis ein.
Mit seinem versierten Bassspiel glänzt Charlie Haden auf dem Album. Außerdem singt er in "Why" ein bezauberndes Duett mit Linda Ronstadt. Überdies versprühen die Bläser der "Hotel Lobby Band" ein revolutionäres Flair in diesem Song. Jedoch betrachtete Bley diese Platte nicht in einem politischen Kontext. Vielmehr ließ sie sich für das Album von den Beatles inspirieren, die mit "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band" und "The White Album" noch unbekanntes Territorium betraten.
Deswegen benötigte sie Don Cherry für die Umsetzung ihrer Ideen. Der traf sich mit ihr in New York am 30. November 1970, um seine Parts an der Trompete, an den Percussions und an der Porzellanflöte sowie Gesangsspuren für "Rawalpindi Blues" aufzunehmen. Gleichzeitig verweilte Jack Bruce in London. Da sich in dem Stück die östlichen und westlichen Kulturen annähern sollten, erwies sich die örtliche Trennung sogar als Vorteil. Der E-Bassist reiste am 7. Dezember an und machte sich direkt an seinen Job. Zufälligerweise besuchte John McLaughlin gerade die Stadt. Er steuerte Gitarrensolos bei.
Gemeinsam entfachen die zwei Saitenmusiker ein wahres Rock-Feuerwerk auf dieser Scheibe. Für Don Cherry gründete Bley demgegenüber eine eigene Formation, die Desert Band, die sich fernöstlich-spiritueller Musik widmet.
"Rawalpindi Blues" überzeugt in der ersten Hälfte mit der kraftstrotzenden Bass- und Gesangsperformance von Jack Bruce und John McLaughlins leidenschaftlichem Spiel an der Gitarre. Man fühlt sich sofort an die Magie erinnert, die Carlos Santana nur wenige Monate zuvor auf "Abraxas" entfacht hatte. Der Übergang in eine andere musikalische Welt gestaltet sich daraufhin in dem Track nahezu fließend.
Indische Rhythmen beherrschen die letzte Hälfte dieser Nummer, die Don Cherry mit seinen sehnsüchtigen Improvisationen an seiner Trompete veredelt. Zwischendrin glänzt er mit seiner beschwörenden Stimme, die an die Mystik von Sun Ra gemahnt. Aus diesem Grunde erachtet man das Stück auch als impulsgebend für die Weltmusik.
Den Song bearbeitete Bley anschließend behutsam am Schneidetisch. Diese Vorhergehensweise erklärt auch, warum bis zur Fertigstellung von "Escalator Over The Hill" fast drei Jahre ins Land zogen. Spontanität empfindet die Wahl-New Yorkerin daher nicht als ihr Ding. Deshalb betrachtet sie sich als Komponistin und Arrangeurin denn als Jazz-Musikerin.
Im folgenden "End Of Rawalpindi" gehen schließlich Orient und Okzident einen gemeinsamen Dialog ein. Mitunter hat das Stück etwas von einer ausgelassenen Jam-Session der beiden Bands. Besonders Don Cherry zeigt sich mit seinem Spiel in dieser Nummer von seiner lebhaften Seite. Dank seiner Ausdrucksfähigkeit führt er diese Scheibe qualitativ auf eine höhere Stufe.
Das Werk beschließt der Track "...And It's Again". Er greift vorhergende Motive des Albums auf. Die fünf stilistisch grundverschiedenen Bands, die Bley für die Scheibe gruppierte, treffen in diesem Song mit Leichtigkeit und Spielfreude aufeinander. Zusammen erzeugen sie eine repetitive, genreübergreifende Mixtur. Zum Abschluss geht die Nummer auf der LP in eine Endlosrille über, die einem ununterbrochenen Summen eines Bienen- oder Wespenschwarmes ähnelt. Man musste eigenhändig die Platte beenden. So revolutionierte die Komponistin das Vinyl-Format.
Im Endeffekt veröffentlichte sie das Werk 1971 nach den Aufnahmestrapazen auf JCOA. 1972 wählten die Leser der Zeitschrift Melody Maker es zum Album des Jahres. Als ernstzunehmende Künstlerin im Jazz hatte sich die Grenzgängerin also rasch etablieren können. Im gleichen Jahr hob sie gemeinsam mit Michael Mantler das Label WATT aus der Taufe, auf dem seitdem nahezu all ihre Arbeiten erschienen. Das Jazz Composers Orchestra trat 1975 zum letzten Mal auf.
Die eigenwillige Komponierweise der US-Amerikanerin stieß in der Folgezeit bei den konservativen Jazz-Hörern auf Ablehnung. Als Reaktion integrierte sie 1979 Buhrufe in "Boo To You Too". Auf der Bühne animierte sie das Publikum bei den Berliner Jazztagen im selben Jahr zum Mitmachen, als sie das Stück spielte. Es fühlte sich vor den Kopf gestoßen.
Steve Swallow, seit 1985 Lebenspartner von Carla Bley, zeigte sich bei der Uraufführung von "Escalator Over The Hill" bei der Kölner Musik-Triennale 1997 am E-Bass in prächtiger Verfassung. Obendrein entlockten Musiker wie Linda Sharrock und Wolfgang Puschnig dem Album neue Facetten. Dazu hatte Bley im Vorfeld alle Songs überarbeitet und an die örtlichen Umstände, die Instrumentierung und das Talent der Solisten angepasst. Im Vorfeld hatte sie zudem viel geprobt. Mittlerweile hat sie das Werk so umgeschrieben, dass man es jederzeit wieder auf die Bühne bringen kann.
In seiner Review All About Jazz behauptete Trevor MacLaren einmal, dass "Escalator Over The Hill" wie "keine andere Jazz-Scheibe" klinge. Seinen Worten kann man im Wesentlichen kaum noch etwas hinzufügen. Ihre Kompositionen, die oftmals zwischen Ironie, Schwermut und Größenwahn changieren, hatte Carla Bley auf dieser Platte zu einer einfallsreichen Collage verdichtet.
Sie bediente sich auf dem Album einer unkonventionellen Soundsprache, die man als Gegenentwurf zu den sauberen Big Band-Klängen eines Frank Sinatra erachten kann. Sie beeinflusst damit bis heute viele Musiker und Musikerinnen im zeitgemäßen Jazz grundlegend.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
1 Kommentar
Da es keine Jazz-Aficionados auf Laut.de gibt, wurden wir mit den Spice Girls als Klickfänger bestraft.