laut.de-Kritik

Zwischen rotem Teppich und Kokain-Anthem: die beste Pop-Musikerin ihrer Generation.

Review von

2014 steht Charli XCX beim Melt Festival auf der Bühne und performt in der glühenden Mittagshitze den von ihr geschriebenen Icona Pop-Hit "I Love It". Im Publikum winken ihr verhalten eine paar Hände entgegen, von Party-Stimmung keine Spur. Ihre Antwort: "What the fuck. I thought this fucking song was big in Germany?" Was mittlerweile Meme geworden ist, veranschaulicht den Karrierefehlstart der Britin anschaulich: Vom Publikum alleingelassen, hüpft sie über die Bühne, bemüht eine juvenile, Popstar-Fantasie am Leben zu halten. Während ihr nur Desinteresse entgegenschlägt.

Die Charli XCX, die uns damals Warner und Atlantic auf ihren ersten beiden Alben verkauften, starb wenige Monate nach diesem Auftritt. Der Mainstream-Erfolg ebbte ab, es wurde schnell wieder leise um die damals 23-Jährige. Ein waschechter Popstar, das war sie schon immer. Nur eben keiner, der zur Mittagszeit auf Festivalbühnen vor Menschen herumturnt, die sich ungefähr so viel für Popmusik interessieren wie Markus Söder für Sojaschnitzel. Charli fand ihre Heimat, um diesen Vergleich weiter zu bemühen, nicht auf der Mainstage, sondern auf der Clubtoilette eines verschwitzten Raves mit der Nase auf dem Spülkasten.

Sie erkannte das Potenzial, das Mitte der 2010er auf Soundcloud und schrulligen Boiler Room-Sets vor sich hin köchelte und machte es sich zur Aufgabe, im Tandem mit den Visionären dieser Bewegung ein Popstar nach ihren eigenen Regeln zu werden. AG Cook und SOPHIE fungierten als treibende Kräfte hinter den folgenden Releases und halfen Charli mit "Vroom Vroom" und "Pop 2" tatsächlich so etwas wie die nächste Evolutionsstufe der Popmusik zu erlangen. Eine Entwicklung, die sie mit ihrem quasi zweiten Debütalbum "Charli" in Formvollendung festigte.

Ihr Aufstieg zur Kultikone erfolgte währenddessen langsam aber beständig. Immer wieder streckte sie ihre Fühler aus, um zu sehen, ob denn der Mainstream bereit für ihre Vision war, nur um sich jedes Mal erneut in ihren kleinen Nachtclub zurückzuziehen und den Regler ein wenig mehr aufzudrehen. Die Tür ließ sie dabei mit jedem neuen Release ein kleines Stückchen weiter offen, nur für den Fall, sollte sich eine verlorene Seele hinein verirren.

Nachdem sie den Dancefloor mit ihrem Pandemie-Album "How I'm Feeling Now" in ihr eigenes Schlafzimmer verlegen musste, und sie mit dem Sellout-Album "CRASH" kurzzeitig wieder auf der Festivalbühne vorbeischaute, fühlt sich der alte, verstaubte Rave-Bunker nicht mehr richtig an, Charli ist ihm längst entwachsen. Doch statt diesen abzureißen, tut sie mit ihrem neuesten Streich das genaue Gegenteil.

"BRAT" hebt die Türen aus den Angeln und verlegt die Party in einen verdammten Flugzeughangar. Das ist der Moment, in dem die Blase platzt, an dem die ganze Welt hören soll, was die Stammgäste von früher eh schon seit Jahren wissen: Charli XCX ist die beste Pop-Musikerin dieser Generation.

Ich sage das nicht, weil "BRAT" ihr bestes Album ist. Ich sage das, weil "BRAT" einem diese Tatsache mit der Selbstsicherheit einer mit Kokain gedopten Paris Hilton auf das Trommelfell tätowiert. Charli präsentiert ihre Vision auf diesem Album mit einer solchen Selbstsicherheit, dass sie es sich verdient hat, über all diejenigen zu lachen, die damit nichts anfangen können. Wenn sie auf "Von Dutch" singt "You're obsessin, just confess it, put up hands up.", dann drücken ihre Worte einem tatsächlich die Pistole auf die Brust.

Dieses Album durchströmt eine gleichermaßen aus der Zeit gefallene wie chronische IT-Girl-Ästhetik, die einem das Gefühl gibt, uncool zu sein, wenn man nicht dazugehört. Charli reminisziert eine Zeit, in denen Popstars Diven waren und Paparazzi-Schnappschüsse Karrieren ins Wanken bringen konnten. Sie ist allerdings nicht darum bemüht, ein besonders makelloses Bild dieser Zeit zu zeichnen, sondern kümmert sich mehr darum, den Exzess zu bebildern, der zu eben diesen Schnappschüssen führte. "BRAT" sitzt nicht länger am Tisch der Außenseiter, sondern am Tisch der "Mean Girls" und spuckt dir einen Kaugummi vor die Füße, wenn es dich erwischt, wie du es zu lange anstarrst.

Das musikalische Ergebnis ist ein Bastard aus Justice, der Musik, die David Guetta gerne machen würde, und ihrer eigenen "Pop 2"-Blaupause. Assistiert von AG Cook, Easyfun und Gesaffelstein baut Charli makellose, zuckersüße, hyperaktive und vor allem unwiderstehliche Melodien, die einem das Gefühl geben, als habe man sich selbst auf einen jener Warehouse-Raves geschlichen, die Charli in ihrer Jugend so stark beeinflusst haben.

Der House-Brecher "Club Classics" wirft früh die Kickdrum an und lässt binnen Sekunden den Schweiß von der Decke tropfen. "Von Dutch" durchziehen diese Synths, die so monumental durch das Klangbild summen, dass man mit jeder Wiederholung meinen könnte, ein Jumbo Jet würde haarscharf am Trommelfell vorbeifliegen. Die "Mean Girls"-Synthline kommt nicht minder brachial daher und droht einen in der ersten Hook nahezu zu erdrücken, nur damit Charli nach der Hälfte den Stecker zieht und ein Piano in den Mittelpunkt des Raves schleift.

Die Songs auf diesem Album verlaufen nur selten so geradlinig, wie man es vielleicht erwarten würde. Das beste Beispiel dafür findet sich in "Everything Is Romantic", einem Song, der die Liebe inmitten von Breakbeats, Zuckerwatte und brennenden DJ-Controllern erforscht.

"BRAT" konterkariert das Bild des traditionellen braven, weiblichen Popstars der Generation Z mit größtmöglicher Freude. Das grottenhässliche Cover verweigert sich radikal jeglicher Selbstdarstellung. Charli selbst inszeniert sich als Rampensau, die am liebsten zu ihrer eigenen Musik feiert und mit Frauen tanzt, die ebenso viel Liebe und Anerkennung füreinander übrig haben, wie sie damit beschäftigt sind, Beziehungen in Schutt und Asche zu legen - und den eigenen Körper gleich mit. Die Party, die Charli feiert ist keine in Weichzeichner gemalte Hollywood-Fantasie, sondern voll von Schweiß, Sex, Drogen, gebrochenen Herzen und auf Clubtoiletten wiedergefundenem Lebenswillen.

Die beiden Songs, die das Album eröffnen und schließen, stecken diesen Rahmen sehr anschaulich ab. "360" rollt mit der ansteckendsten Keyboard-Melodie des Jahres den roten Teppich aus und stolziert mit größtmöglicher Anmutung darüber hinweg. "365" nutzt dieselbe Melodie und pervertiert sie zu einem Kokain-Anthem. Aus der "Bumpin That"-Adlib wird ein Mantra der Hemmungslosigkeit. Das Klangbild morpht mit jedem Bump mehr und mehr zu einem Fiebertraum, ehe einen der finale Bass-Drop komplett verwirrt auf die Tanzfläche zurückschubst und eine keine andere Wahl lässt, als noch härter zu tanzen.

Was "BRAT" dazu konzeptionell so wahnsinnig spannend macht, ist der Fakt, dass ausgerechnet ihr exzessivstes Album auch ihr vulnerabelstes und persönlichstes ist. Mit Album Nummer sieben zelebriert die Britin nicht nur das High so ausufernd wie nie zuvor, sie schreckt auch nicht vor dem Hangover am Tag danach zurück. Viele der Songs erforschen Feminität und den Umgang mit ihrem eigenen Status auf eine Art und Weise, die ihrer bisherigen Diskografie abgeht. Das Writing war noch nie so simpel und direkt, aber in der Folge eben auch noch nie so ehrlich.

Mit "Girl, So Confusing" etwa durchleuchtet sie ihre Beziehung zu einer anderen namenlosen Pop-Sängerin, ohne vor Schattenseiten wie Rivalitätsgedanken, Neid oder Selbstzweifel zurückschrecken. "<>We talk about making music, but I don't know if it's honest. Can't tell you if you wanna see me falling over and failing. And you can't tell what you're feeling." Die Zeilen fühlen sich an, als hätte Charli alte Tagebucheinträge in die Tonspur gepresst, ohne großartig nachzudenken, ob Hörer:innen die Gefühle ihrer Texte nachvollziehen können. Im Detail kann man das auch nicht immer, dafür fühlen sie sich gelebt an.

Während ein Großteil von "BRAT" auf der Oberfläche das Bild einer Frau zeichnet, die Gefallen daran findet, wie viele News-Outlets ihren neuen Urlaubs-Fling zur Headline machen, offenbart sich abseits der Strobos eine Unsicherheit, die die zuvor an den Tag gelegte Selbstsicherheit zu Mantras der Affirmation werden lassen. So stecken etwa Easyfuns Videospiel-Synthies auf "Sympathy Is A Knife" den Dancefloor in Brand, während Charli auf selbigem einen Nervenzusammenbruch erleidet. "Why I wanna buy a gun? Why I wanna shoot myself?", singt sie angesichts der Selbstzweifel und Eifersucht, die an ihr nagen.

"I Might Say Something Stupid" definiert diese Gedanken nochmals weiter aus und erlaubt sich inmitten zwei der süßesten Stücke Ear-Candy einen genuinen Moment der Melancholie. Gesaffelstein spielt das Piano, während Charli im Autotune ertrinkt: "I'm famous but not quite. But I'm perfect for the background. One foot in a normal life" singt sie mit der Müdigkeit eines durchzechten Wochenendes in den Knochen. Zwei Minuten, die nach dem Blick in den Spiegel nach der Party klingen, auf die man eigentlich gar nicht gehen wollte, nach verwischter Schminke und ungewaschenen Strumpfhosen.

Der Club stellt auf "BRAT" jedoch nicht nur einen Ort dar, um vor diesen Gefühlen zu flüchten, er legt auch nie vollends verheilte Wunden wieder offen und wirft unbeantwortete Fragen auf. Auch Jahre nach ihrem Tod strahlt SOPHIEs Einfluss auf diesem Album noch in seinen grellsten Farben, und egal, wie hart der Bass auch scheppert, Charli kann ihre Gefühle für ihre einstige Mentorin darunter nicht begraben.

Mit "So I" zollt sie der viel zu früh verstorbenen Visionärin Tribut und schreckt selbst in diesem Kontext nicht davor zurück, den negativen Gefühlen Raum zu geben, die sie während ihrer Beziehung beschäftigte. Es ist einer der ehrlichsten und menschlichsten Songs dieser Art, die ich in sehr langer Zeit zu hören bekam, weil er nicht nur zum Ausdruck bringt, wie sehr man eine Person vermisst, sondern auch, wie schwer das eigene Fehlverhalten rückblickend auf einem lastet.

Das Kunststück von "BRAT" bleibt es allerdings, diese emotionale Potenz nicht auf das Gemüt schlagen zu lassen oder zu sehr in den Mittelpunkt zu rücken. Charli gibt einem das rundeste und vollständigste Stück für das Puzzle in die Hand, wer sie denn eigentlich als Mensch ist, wenn die Lichter ausgehen, aber weigert sich gleichzeitig, selbige länger als ein paar Minuten auszulassen. Charlis größtes Talent liegt nach wie vor nicht darin, eine differenzierte Dissertation zu schreiben, sondern verdammte Hits. Und dieses Album ist voll davon. "365" zieht folgerichtig den Schlussstrich auf die einzige Art und Weise, wie es für ein Album wie dieses Sinn macht: mit dem Geldschein auf dem Spülkasten.

Der vielleicht anschaulichste Moment, der diesen Triumphzug visualisiert, findet sich in Charlis Boiler Room-Set, das diese ganze Ära einleitete. Wie ein Boxer in den Ring läuft sie ans DJ-Pult. Den Eyeliner hat sie fast bis zum Haaransatz gezogen, auf ihrem Shirt prangt dick und fett "Cult Classic". Das öffnende Flirren surrt durch die Arena wie ein startender Rennwagen, der zu "Cult Classics" immer mehr Geschwindigkeit aufnimmt. Plötzlich schießt die erste Silbe aus "Vroom Vroom" wie ein Leuchtrakete durch den Nachthimmel, und die gesamte Halle steht in Flammen.

Die folgenden neunzig Minuten spiegeln die Quintessenz von "BRAT". Sie sind eine Fingerübung in Dance-Exzellenz, ein gefühlvoller Tribut an verstorbene Ikonen und ein Liebesbrief an den Eskapismus der Clubkultur. Am Ende kommen keine Zweifel mehr daran auf, dass Charli genau da angekommen ist, wo sie schon immer hingehörte: Ganz oben an die Spitze. Das Set schließt mit Icona Pops "I Love It". Dieses Mal singen alle mit.

Trackliste

  1. 1. 360
  2. 2. Club Classics
  3. 3. Sympathy Is A Knife
  4. 4. I Might Say Something Stupid
  5. 5. Talk Talk
  6. 6. Von Dutch
  7. 7. Everything Is Romantic
  8. 8. Rewind
  9. 9. So I
  10. 10. Girl, So Confusing
  11. 11. Appel
  12. 12. B2B
  13. 13. Mean Girls
  14. 14. I Think About It All The Time
  15. 15. 365

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