laut.de-Kritik
Ein fieser, kleiner Glitch in der Metalcore-Matrix.
Review von Mirco LeierWer musikalische Innovation sucht, wird in den Gefilden des Metalcores eher selten fündig. Das Genre hat sein Erfolgsrezept in seiner fast 30-jährigen Bestehenszeit nur marginal verändert bzw. musste es vielleicht auch gar nicht. Die oftmals fließenden Übergänge zwischen Hardcore, Metalcore und Hardcore-Punk zeigen es.
Traut sich eine Band dann aber doch mal, tatsächlich neue Elemente in den Sound zu integrieren, endet dass nur allzu oft in Spott und Häme seitens der Crowd, die sich den Representergedanken nicht nehmen lassen will und stattdessen lieber "Jane Doe" oder "Alive Or Just Breathing" in Dauerschleife hört.
Auch die Pittsburgher von Code Orange sind da keine Ausnahme. Bereits auf "Forever" zeichneten sich Ideen ab, die bei Fans eher auf gemischte Resonanz stießen. Was auf ihrem letzten Album aber noch als nettes, respektive nerviges Gimmick abgetan werden konnte, entwickelt sich nun auf "Underneath" zum Statement.
Der Fünfer ist den Kinderschuhen entwachsen und pinselt mithilfe der Palette ihrer Einflüsse ein verzerrtes, verstörendes und überraschend buntes Bild, nur um es anschließend durch den digitalen Fleischwolf zu drehen. Das klingt nach Deftones, nach Converge, nach J Dilla (kein Scheiß), nach Hatebreed, nach Enter Shikari und eben durch und durch nach Code Orange.
Der blutrote Faden der all diese Ideen zusammenhält und kohärent wirken lässt, sind die Glitches und elektronische Spielereien, die mal mehr mal weniger aggressiv das musikalische Lenkrad an sich reißen, um in den richtigen Momenten die Brutalität aufs absolute Maximum zu katapultieren und ästhetisch einen doppelten Boden zu erschaffen.
Zu Beginn der LP geben sich die Amerikaner mit "Swallowing The Rabbit Whole" relativ konventionell und bedienen den gnadenlos Breakdown-orientieren Sound, den man gewohnt ist. Dem metaphorischen Hasen, den sie uns dort drei Minuten lang in den Rachen stopfen, kann man aber angesichts der technischen Finesse und schieren Aggression nur schwer widerstehen.
Mit "In Fear" beginnt die Platte den erwähnten elektronischen Elementen mehr Spielraum zu geben, was zu Beginn und vor allem im letzten Drittel des Songs Bilder einer amoklaufenden KI evoziert, die versucht, ihrer materiellen Hülle zu entkommen. Die verzerrten Schreie am Ende implizieren, dass sie es auch geschafft haben könnte.
Doch wo Code Orange dem Digitalen frönen, tun ihre Texte das genaue Gegenteil. Ohne den Finger zu erheben oder sich abgedroschen Phrasen hinzugeben, üben sie Kritik am digitalen Zeitalter und widmen sich Themen wie Isolation, existenziellen Ängsten, Depression, Überwachung oder Stalking - mit der für sie selbstverständlichen Prise Nihilismus.
Speaking Of: "Who I Am" ist trotz seines melodischen, samplelastigen Korsetts einer der bedrückendsten Songs des Albums, da er sich aufgrund seiner realen Vorlage (Björk-Stalker Ricardo Lopez) fast schon ein wenig zu real anfühlt. Wenn der Song mit dessen Worten "Frankly I feel like shit" schließt, fühlt man sich dementsprechend.
"Cold.Metal.Place" und "Erasure Scan" stellen die potentesten Krach-Collagen von "Underneath" dar. Das Zusammenspiel von peitschenden Sounds aus der Drummachine, Samples, Distortion und Sänger Jami Morgans mörderischen Vocals gebiert nicht nur die mitunter bösesten Breakdowns, die man in jüngster Vergangenheit gehört hat, sondern auch die mitunter besten Songs aus dem Hause Code Orange.
Was bei all der Brutalität nicht vergessen werden sollte: Jami und Co. können auch verdammt eingängige Hooks. Neben dem bereits erwähnten "Who I Am" reihen sich die Ohrwurm-Refrains der anderen melodischen Songs ("The Easy Way", "Sulfur Surrounding", "Autumn and Carbine") ein, die sich klanglich irgendwo zwischen Alice In Chains, Deftones und Stone Sour bewegen.
Der Closer und Titeltrack "Underneath" beschließt die Platte, indem er alles, was die vorherigen 44 Minuten so unterhaltsam und einzigartig machte, in knapp fünf Minuten komprimiert: Melodik, Elektronik und Brecheisen-Breakdowns verschmelzen zu einem ebenso brutalen wie eingängigen Monster, das die weniger denkwürdigen, teils fast schon formelhaft geratenen Songs der zweiten Hälfte ("Last Ones Left" und "Back Inside The Glass") vergessen macht.
Code Orange mögen mit ihrem unorthodoxen und vierten Streich die Welt des extremen Metals vorerst nicht auf den Kopf stellen, doch dieser fiese kleine Glitch in der Metalcore-Matrix dürfte nicht nur den fünf Amis die Schlagrichtung für weitere womöglich noch außergewöhnlichere Experimente vorgeben, sondern legt auch den Grundstein für nachfolgende Bands, die ebenso wenig mit dem Strom schwimmen wollen. Wie singt Reba in den finalen Minuten so schön? "It took some time but I realized the obstacle's the only way"
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