laut.de-Kritik

Eine Club-Nacht, die man nicht so schnell vergisst.

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Zwei Uhr morgens, Samstagnacht. "Harlecore" steht dick in neonfarben über dem Eingang eines unscheinbar aussehenden Betonklotzes, der, da bist du dir sicher, letzte Woche noch nicht da war. Der Bass aus dem Inneren lässt deine Schuhsohlen schon in der Ferne vibrieren. Neugierig entnimmst du einem zertrampelten Poster das Lineup des Abends: "DJ Mayhem, DJ Ocean, DJ Danny und MC Boing": Namen, von denen du noch nie gehört hast. Die Klänge, die gedämpft nach draußen dringen, klingen gleichermaßen vertraut wie befremdlich - und ziehen dich in Richtung Eingang.

Kasse oder Türsteher suchst du vergebens, stattdessen durchkreuzt eine gepitchte Stimme deine unsicheren Gedanken "Take me up to the rave in the sky / We're all about to get a room that's nice". Auf Autopilot gehst du durch die Tür, stürzt dich in die Menge, und ehe du dich versiehst, schreist du selbst aus voller Kehle "Sickest, sickest night, never, never, never ends". Dann endlich fallen dir die Kopfhörer aus den Ohren und der Anblick der Raufasertapete erinnert dich schmerzlich daran, dass du schon seit über einem Jahr keinen Club mehr von innen gesehen hast.

Es ist fast schon ein Verbrechen, dass der PC Music-Mitbegründer Danny L Harle sein Solodebüt in einer Zeit veröffentlicht, in der es unmöglich ist, den Druck einer 3000 Watt-Anlage umgeben von schwitzenden Menschen zu spüren. "Harlecore" ist eine Liebeserklärung an die britische Rave-Szene und deckt von Eurodance über Jumpstyle bis Gabber so ziemlich alles ab, was die Füße in den 90ern in Bewegung versetzte. Das ist laut, bunt, teilweise fast schon anmaßend überdreht, und macht in seinen besten Momenten einen Heidenspaß.

Die vier fiktiven DJ-Personas, die Harle für dieses Projekt erschuf, sind jeweils für einen spezifischen Sound zuständig. So serviert DJ Danny dank einer relativ straight gespielten Mischung aus Eurodance und EDM die wohl vertrauteste Elektro-Kost, während DJ Mayhems chaotische Happy Hardcore-Gabber-Hypriden mehr als einmal damit drohen, die Hütte wortwörtlich einzustampfen. Einen Teil dazu trägt auch MC Boing bei, der als eine Art Crazy Frog auf Koks wie ein Flummi durch die Tracklist springt und charismatischen Nonsens über hyperaktive Highspeed-Banger rappt. Gut also, dass DJ Oceans Ambient-Trance gleich zwei ausdauernde Verschnaufpausen von der akustischen Anarchie gewährt.

Man könnte alles schnell als Parodie abtun, allein das Albumcover lädt dazu ein, aber sein Craftsmanship, das Danny L Harle in die Musik steckt, übersteigt das Kommerz orientierte Knöpfchendrehen der Tomorrowland-Stammgäste bei weitem. "On A Mountain" beginnt beispielsweise als klassischer EDM-Crowdpleaser, definiert seine Elemente mit andauernder Laufzeit jedoch immer weiter aus. Die Synthlines werden mit jedem Chorus vielseitiger und euphorischer, die Drums rasseln sich zunehmend in Drum'n'Bass-Gefilde, um am Ende in einer musikalischen Endorphine-Bombe aufzugehen. Ein Rezept, das, so simpel es sein mag, trotzdem Talent benötigt, um so grandios zu funktionieren.

Besonders auf DJ Danny-Songs trifft dies zuh. Am allerbesten wohl bei "Take My Heart Away", einer Hommage an die infektiösen Club-Hits der Jahrtausendwende. Die Stimme, die fröhlich "Lalala" vor sich hin trällert, erinnert an Vengaboys oder Aqua und wird von einem progressiveren Instrumental begleitet, ohne dass die Catchiness leidet. Die Melodie braucht ganze dreißig Sekunden um sich für Wochen im Gehörgang einzunisten.

Songs wie "Interlocked", "All Night" und mit Abstrichen "Shining Stars" stampfen einem in ähnlicher Rekordzeit dann jenen Gehörgang kaputt. Mit Breakbeats, Hardcore-Breakdowns und einem Presslufthammer-Bass liefern die DJ Mayhem-Beiträge das knallharte Kontrastprogramm zu den leicht verträglichen Club-Hymnen seines fiktiven Counterparts. In Zusammenarbeit mit Hudson Mohawke artet Danny L Harle den Blumenkinder-Rave zum Moshpit aus. Jedoch tut er dies wieder mit viel Fingerspitzengefühl in Sachen Eingängigkeit und Detailverliebtheit, so dass diese Dampfwalzen nicht einfach nur überrollen.

Die Stelle, an der die Fassade dieses in Albumform verpackten Club-Konzerts etwas bröckelt, ist der eher uninspiriert wirkende Ambient-Beitrag von DJ Ocean. Mit Vocals von Caroline Polachek, die auf "Ocean's Theme" und "For So Long" ihren Walgesang zum besten gibt, gibt es zwar ein relativ solides Fundament, allerdings gelingt es Harle nicht, die beiden längsten Songs interessant zu gestalten. Den Zweck als kurze Auszeit zwischen den zahlreichen schweißtreibenden Bangern erfüllen die Songs zwar durchaus, doch möchte man nach spätestens dem halben Weg die Skiptaste drücken, um sich weiter die Seele aus dem Leib tanzen zu können.

Das "Harlecore" den Spaß-Regler auch etwas zu weit aufdrehen kann, zeigt im Gegenzug Lil Data, der MC Boing seine Stimme leiht. Die Art, wie einem das fiktive blaue Marsmännchen repetitive Phrasen um die Ohren haut, erinnert an das penetrante Gebrabbel eines besonders motivierten Jahrmarkt-Schreiers. Beim ersten Mal lacht man noch darüber, beim zweiten Mal nervt es. Und so geht auch "Boing Beat" noch mit einem Augenzwinkern als charismatischer Crazy Frog-Throwback durch, während MC Boings Geschrei auf "Piano Song" und "Car Song" zwei interessante Instrumentals unbrauchbar macht.

So sehr das dem Albumerlebnis als Ganzes etwas im Wege stehen mag, so mindert es nicht den Fakt, dass die zahlreichen Höhepunkte von "Harlecore" zu den wohl überraschendsten und wahnsinnigsten Momenten zählen, die die elektronische Musik dieses Jahr erleben wird. Unabhängig davon, ob man diesem Genre grundsätzlich etwas abgewinnen kann oder nicht, sollte jeder zumindest einen Kurztrip in die verrückte Club-Welt des Danny L Harle wagen, um nur für einen Moment dem Alltag zu entfliehen und wieder zu erleben, wie es sich anfühlt, mit Endorphin-Überschuss die Belastbarkeit des Wohnungsbodens zu testen.

Trackliste

  1. 1. Where Are You Now
  2. 2. Boing Beat
  3. 3. Interlocked
  4. 4. Ocean's Theme
  5. 5. On A Mountain
  6. 6. Piano Song
  7. 7. Do You Remember
  8. 8. All Night
  9. 9. Take My Heart Away
  10. 10. For So Long
  11. 11. Shining Stars
  12. 12. Car Song
  13. 13. Ti Amo

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