laut.de-Kritik

Zwischen Led Zeppelin und Kraftwerk: Das Meisterwerk der Synthie-Cowboys.

Review von

Anfang der 80er Jahre durfte Bassist Simon Gallup noch für The Cure Interviews geben und in einem fragte man ihn, welche Band er zutiefst verabscheue. Die Antwort kam pfeilschnell: "Ich hasse Depeche Mode. Ihre Musik und wie sie in ihren Anzügen rumlaufen, einfach lächerlich."

Wie lange Gallup anschließend noch öffentlich sprechen durfte, ist nicht verbürgt, mit seiner Meinung stand er in Großbritannien aber nicht alleine da. Die von Rockjournalisten dominierte Presse verhöhnte das Quartett aus der Londoner Trabantenstadt Basildon über Jahre hinweg, stichelte mit Fragen nach dem Drummer und ließ sich 1988 wahrscheinlich noch die Vorgruppen aus Kalifornien faxen, um den Lesern erklären zu können, wie sich 70.000 Menschen zu einem DM-Konzert nach Pasadena verirren konnten.

Trotz dieses Karriere-Höhepunkts deutete nichts darauf hin, dass der '87er Albumtitel "Music For The Masses" bald völlig ironiefrei Wirklichkeit werden, geschweige denn dass der "mit Abstand lächerlichste Heavy Metal-Titel, der uns eingefallen ist" (Martin Gore) zum bestverkauftesten DM-Tonträger in die Geschichte eingehen würde. Und schon gar nicht, dass ein Jahrzehnt später mit Johnny Cash ein Mann einen Song daraus neu aufnehmen würde, dessen Musik Gore gerade zwei Jahre zuvor im "101"-Film in einem Country-Plattenladen für sich entdeckt hatte.

Besagter Song ist das 1989 als Vorabsingle veröffentlichte "Personal Jesus", ein mit Pailletten bestückter Bluesbrocken, der Marc Bolan-Grooves mit Electronica vermählte. Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, diesen Klassiker sofort verstanden zu haben. Es wäre von einem 15-Jährigen vielleicht auch etwas zu viel verlangt gewesen, der noch nie in seinem Leben etwas von Marc Bolan gehört, sich aber sechs Monate zuvor noch in Vorfreude auf alles Kommende das aktuelle Livealbum "101" zugelegt hatte. Aber das hier war etwas komplett anderes. Wieso spielten meine Helden plötzlich als Cowboys verkleidet Gitarre in Wüstenpuffs? Verstört hörte ich wochenlang nur die Single-B-Seite "Dangerous".

Und als hätte Martin Gore mein präpubertäres Unbehagen hinsichtlich des krassen Stilwechsels gespürt, wovon ich selbstverständlich seither ausgehe, ließ er mit "Enjoy The Silence" einen bittersüßen Crowdpleaser erster Güte folgen, sowas wie die Quintessenz der gesamten bisherigen Depeche-Karriere in vier Minuten: Dramatik, Grandezza, Dancebeats und eine Melodie, die in Wave-Discos, im Formatradio und an der Wurstbude funktioniert. Wo man sie bald auch überall antraf.

Mit der Distanz von mehr als 20 Jahren habe ich natürlich erkannt, dass die Klasse von "Violator" nicht nur darin bestand, dass das Album das exorbitant hohe Level der zwei Hitsingles halten konnte. Nein, es waren auch die richtigen Leute vor Ort: Mark "Flood" Ellis und Francois Kevorkian prägten die Mainstream-Marke Depeche Mode 1990 auf akustischer Ebene analog zu Anton Corbijns visuellen Großtaten.

Der damals aufstrebende Produzent Flood (U2, Nick Cave) redete der Band erstmal aus, dass es peinlich sei, die gleichen Sounds oder Samples mehrmals zu benutzen, was ebenso zum homogenen Albumsound beitrug wie sein Credo: "Wenn ihr Gitarren verwenden wollt, dann verwendet sie halt einfach." Die neuen Impulse des Rock-Producers ergänzte wiederum der aufgrund seiner Arbeit für Kraftwerks "Electric Café"-Album verpflichtete New Yorker DJ Francois Kevorkian hinterm Mischpult.

Bald stellte sich heraus, warum die Düsseldorfer von dem Mann begeistert waren, denn Kevorkian arbeitete mitunter mehrere Tage an einem einzigen Hi-Hat-Sound. Das Ergebnis gab ihm Recht: Auf "Violator" fließen minimalistische Kühle mit natürlichem Instrumentarium so organisch zusammen, als wären die Genres Rock und Electro schon immer eins gewesen.

Allein für den Opener "World In My Eyes" müsste man Kevorkian nachträglich eine Sänfte bauen: Jede einzelne 808-Snare ein Schlag in die Magengrube, die begleitenden Hi-Hats mit der technischen Präzision eines Space Shuttle-Starts (oder eben einer ganz normalen Kraftwerk-Platte).

"Policy Of Truth" hört man Kevorkians filigrane Detailversessenheit ebenfalls an, die das einprägsame Gitarrenriff erst in einen akzentuierten Groove einbettete. Kurioserweise war der französische Technikfreak ausgerechnet am Über-Dance-Song "Enjoy The Silence" nicht beteiligt, aber DM hatten damals ja noch Alan Wilder, Gott hab ihn selig.

Bekanntlich darf man Wilder für den hymnischen Charakter der DM-Songs bis 1993 verantwortlich machen und meiner persönlichen Meinung nach erreichte er im dunkel-treibenden "Halo", das er in ein furioses Streicher-Finale peitschte, einen oft übersehenen Höhepunkt. Für den Basisgroove verwendete er nach "Never Let Me Down Again" abermals das Drum-Sample von Led Zeppelins "When The Levee Breaks", natürlich verfremdet bis dorthinaus, weshalb weder 1987 noch 1990 irgendjemand danach fragte.

Das Eintauchen in atmosphärische Spannungsbögen gipfelte schließlich im Abschlusssong "Clean", dessen repetitiv hämmernder Klangteppich die psychedelischen Pink Floyd in Erinnerung riefen. Und dann war da natürlich noch Dave Gahan, der zwar schon immer einen guten Job machte, auf "Violator" aber erst richtig zum Crooner aufsteigen konnte, weil er nicht mehr gegen zwanzig scheppernde Industrial-Spuren ansingen musste.

Auf textlicher Ebene fühlte sich Gore mal wieder von Unmoral, (körperlichem) Verlangen und Machtspielereien angezogen und beleuchtete Beziehungsthemen mit gewohnt anzüglichen Doppeldeutigkeiten, denen unsichere Teenager von Orange County bis Südbaden zwar nur ansatzweise folgen konnten, in ihnen aber dennoch ihr ganz persönliches Lebens- und Liebesdilemma gespiegelt sahen.

Heute stehen Depeche Mode als Dinosaurier in der Ruhmeshalle des Pop- und Rockgenres und werden, maßgeblich wegen "Violator" und "Songs Of Faith & Devotion", von so verschiedenen Bands bewundert wie Coldplay, Deftones, The Killers oder Linkin Park. So schön spirituell wie Ex-Chili Pepper John Frusciante im laut.de-Interview 2001 fasste jedoch bisher niemand die Kunst dieses Albums zusammen: "Für mich sind jene Energien, die einst Jimi Hendrix dazu bewogen, neue Sounds zu schaffen dieselben, die Depeche Mode überkamen, als sie 'Violator' aufnahmen; ein Album, das wie kein anderes Rockalbum zuvor klingt."

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. World In My Eyes
  2. 2. Sweetest Perfection
  3. 3. Personal Jesus
  4. 4. Halo
  5. 5. Waiting For The Night
  6. 6. Enjoy The Silence
  7. 7. Policy Of Truth
  8. 8. Blue Dress
  9. 9. Clean

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56 Kommentare mit 8 Antworten

  • Vor 4 Jahren

    Echt 30 Jahre ist das schon her. Scheiße bin ich alt. Wenn bedenkt das ich bei Erscheinen dieser Platte auch schon ... Na lassen wir das.
    Aber noch immer meine zweit(oder dritt) liebste DM Scheibe. Nach Black Celebration und Ultra.

  • Vor 5 Tagen

    Nur kurz zu den Themen PSB und Brit Awards. Neil Tennant hat in Interviews Violator als das Album bezeichnet, dass er selbst gerne gemacht hätte.
    Und hinsichtlich der Brit Awards darf erwähnt werden, dass Depeche Mode sehr wohl für die Verleihung eines Lifetime Achievement Award vorgesehen waren. Als der Band dann aber mitgeteilt wurde, dass die Verleihung ihres Awards nicht öffentlich ausgestrahlt werden würde, haben sie den Preis nicht angenommen und sich öffentlich geäußert. Und zwar mit "Fuck the Brits". Die Reaktion ist auch verständlich. Wer die Verleihung eines als wichtig geltenden Formats nicht öffentlich zeigen möchte, verrät damit einiges darüber, wie es wirklich um den Respekt bestellt ist dem man dem Gewinner des Preises gegenüber ausdrücken möchte.