laut.de-Kritik
Endlich, nach 26 Jahren: Gahan wagt den Bruderkuss.
Review von Michael SchuhDie Zahlen sprechen für sich: 31 Länder, 88 Städte, 69 Shows ausverkauft, zweieinhalb Millionen verkaufte Tickets. "Touring The Angel" schreibt (mal wieder) Geschichte in der nicht eben kurzen Depeche Mode-Erfolgshistorie. Man sollte also annehmen, dass es gute Gründe gibt, fünf Jahre nach der letzten Tour (und vier Jahre nach der letzten Live-DVD) schon wieder eine neue Live-DVD zu veröffentlichen.
Der wichtigste: Jede Tour könnte die letzte sein. Und: Gerade wegen der behäbigeren Geschwindigkeit im Alter muss man sich im Gespräch halten. Unter ähnlichen Gesichtspunkten erscheint im November übrigens nach zwei bereits millionenfach verkauften Singles-Collections noch eine Best Of-CD, die sich laut Keyboarder Andy Fletcher "nicht an die Fans" wendet, sondern an die nicht näher zu bestimmende Masse von Menschen, denen eine Schnittmenge der Songs aus den erwähnten Compilations genügt. Ein bisschen "People Are People" for the masses. Mehr Hits, mehr Kicks.
Das 2- bzw. in der limitierten Version 3-DVD-Spektakel "Touring The Angel" richtet sich dagegen an eine genau zu bestimmende Fan-Menge, zweieinhalb Millionen an der Zahl, die sich auch im 26. Jahr des Bandbestehens die heilige Synthie-Dreifaltigkeit in quasi-sakraler Atmosphäre ins eigene Wohnzimmer beamen will.
Um den allseitigen Seelenfrieden zu gewährleisten, hat sich Massenaufwiegler Dave Gahan für seine schwarzen Schäfchen nicht nur wieder im Fitnessstudio ordentlich fitgetrimmt, er hält sich sogar enger denn je ans Gebot der Nächstenliebe. Interpretierten Exegeten 2001 das lässige Abklatschen mit dem alten Spezi Martin Gore noch als Gipfel gegenseitiger Ehrerbietung, gabs 2006 nicht weniger als den Bruderkuss (auf die Schläfe), unzensiert und direkt vor dem Volk. Das extra hierfür ans Konzertende gesetzte "Goodnight Lovers" fungiert damit als Show- wie Emotionsklimax, dem nun eigentlich nur noch die Fürbitte folgen kann, sich auch in der kommenden Zeit der Soloalben weiterhin lieb zu haben.
Die öffentlich zur Schau gestellte Harmonie hat natürlich auch einen existenzielleren Unterbau: Sollte die "Playing The Angel"-Tour tatsächlich die letzte Depeche Mode-Tournee gewesen sein, orakelt Gahan in den Bonus Features dramatisch, wäre dies ein fantastischer Abschluss. Nun ist es sicherlich albern, bei der Frage um die beste Tour der Bandgeschichte persönliche Maßstäbe anzusetzen, nur weil man vielleicht schon auf mehreren dabei war. Die Idee des Chef-Visionärs Anton Corbijn, die Bühnenshow mithilfe der Integration von Live-Visuals spannender zu gestalten, traf jedenfalls ins Schwarze und gibt Gahan Recht.
Ebenfalls sehr effektiv gestalten sich die Kameras hinter und über Drummer Christian Eigner, dessen Performance heute maßgeblich zum Gelingen einer DM-Show beiträgt. Die grauen, Weltraum-artigen Blechkugeln waren vom visuellen Standpunkt gesehen dagegen weniger state of the art, und auch für die erneut projizierten Strichmännchen bei "Enjoy The Silence" könnte sich Corbijn langsam mal was Neues einfallen lassen. Dem Großteil des Mailänder Publikums sind solche Details am 18. und 19. Februar 2006 erst mal schnuppe. Schon nach dem Opener wehen "Depeche Mode"-Sprechchöre in einer Lautstärke durch die Halle, die man sonst nur Tokio Hotel-Fans zutraut.
Die Protagonisten fügen sich den ihnen zugesprochenen Rollen: Keyboarder Fletcher behauptet seine Stellung als Ein-Tasten-Fachmann und Flummi-Vorklatscher, Gitarrist Gore, der sich nun schon Flügel anklebt, bleibt der flamboyante Textil-Flamingo der Truppe, während Gahan den maskulin-stoppelbärtigen Narzisst und immer wieder erstaunlich agilen Massenhypnotiseur gibt.
Man mag es prätentiös finden, wie Gahan am Bühnenrand mit nackten Oberkörper seine Tattoogalerie spazieren trägt, bisweilen sein Gemächt quetscht und Kusshände wirft; der exaltierte wie wagnereske Elektro-Rock-Soundtrack seiner Band lässt indes fast keine anderen Bewegungen zu.
Sollte es bei dieser Band überhaupt so etwas wie Distanz zum Publikum geben, so steht auf dieser Tour "A Question Of Time", der dritte Song des Abends, sinnbildlich für die ekstatische Verschmelzung aller Messebesucher. Wie groß die Superstar-Bühnen unserer Tage tatsächlich sind, sieht man ja meist erst auf DVD-Aufnahmen und auch hier wirkt der Laufsteg ins Publikum beinahe schon als Fluchtweg in die Arme der Fans.
Zu den Höhepunkten des Abends zählen wie immer das explosive "I Feel You" sowie "Never Let Me Down Again", doch auch die neuen Songs "John The Revelator" und "Suffer Well" empfehlen sich für zukünftige Setlisten. Die Version von "Home" stellt derweil die einfühlsamste Neuinterpretation, die Martin je vortragen durfte, und die ihm erstmals am Abend die Möglichkeit bietet, seine Arme zur Hallendecke zu werfen und sich messianisch feiern zu lassen.
Doch trotz angeklebten Engelsflügeln ist es auch einem der begnadetsten Songwriter unserer Zeit (noch) nicht gestattet, einfach abzuheben. Dass die Band in Mailand auf den Oldie "Leave In Silence" verzichtete, ist schade, doch trösten sich nostalgische Gemüter an "Shake The Disease" und "A Question Of Lust".
Nach der teilweise hektischen Schnittregie und den grobkörnigen Super 8-Effekten ist die Nüchternheit der zweiten DVD eine richtige Wohltat. Ein kleines Tour-Special, in dem alle Beteiligten zu Wort kommen, die Pressekonferenz aus Düsseldorf und die Filmchen der Livescreens runden das Fanpaket ab. Wer sich die Deluxe-Variante inklusive der Bonus-CD leistet, erhält noch acht Livesongs des aktuellen Albums obendrauf. Ein echtes Engelspaket eben.
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