11. April 2009

"Ich will die Demos depressiv halten"

Interview geführt von

Schulzky, Depeche Mode-Fan und Songwriter der Berliner Band The Aim Of Design Is To Define Space, traf Martin Gore für laut.de in Berlin. Checkt auch die Depeche Mode-Releasepartys zu "Sounds Of The Universe" an diesem Wochenende aus (siehe Surftipps).Wenn Künstler aus unserem schönen Land ihre Helden treffen, beschleicht einen schnell ein ungutes Gefühl. Wem treibt der Auftritt von Wolfgang Niedecken in Bruce Springsteens "Hungry Heart" Video nicht die Schamesröte ins Gesicht? Auch die Kollabo von Herbie Grönemeyer mit Antony Hegarty hinterließ Leere und Fragezeichen.

Sollen sich die internationalen Künstler doch auf Augenhöhe treffen, denkt man sich: "Non siamo soli", das Duett von Ricky Martin und Eros Ramazotti, Puerto Rico featuring Italien, sei da als positives Beispiel genannt.

Schlimmer wirds nur noch, wenn an Ereignissen arme lokale Karrieren unnötig in die Länge gezogen werden und Künstler, die eben noch geschüttelreimt haben, plötzlich zu Autoren oder Schriftstellern mutieren. So verfasst Maurice Summen, ehemals oder immer noch Kopf von Die Türen, für die Berliner Zeitung neuerdings völlig unironische Kritiken über Sarah Connor-Konzerte.

Und auch die Werke von Christiane Rösinger (Britta) oder Nagel (Muff Potter) wecken eher das Bedürfnis, die Erfindung des Buchdrucks zu verfluchen. Dann doch lieber gleich saftige Gastrokritiken verfassen so wie neuerdings Blixa Bargeld in seinem Restaurantreiseführer "Europa kreuzweise" oder die kulinarische FAZ-Kolumne von Jürgen Dollase, ehemals Keyboarder und Backgroundsänger der 70er-Krautrockband Wallenstein.

Nun sollte ich mich in diese traurige Riege einreihen und Martin Gore interviewen. Einige meiner Helden habe ich schon getroffen: Salman Rushdie saß mir mal mit einer sehr jungen Dame im Speisewagen vom ICE Köln/Berlin gegenüber, Boy George gab mir auf seiner Party in London Begrüßungsbussis, ich beglückwünschte Thomas Kretschmann persönlich zu seinem Auftritt bei "Valkyrie", Philip Roth trafen wir im "Ouest" in New Yorks Upper West Side, Maxim Biller verkaufte ich einmal beinah eine Badehose und als Student war ich mal mit Peter Sloterdijk essen. Der ließ gleich zweimal den Wein zurückgehen!

Nun also Martin Gore. Meine nach wie vor ungebrochene Leidenschaft für Depeche Mode ist an anderer Stelle nachzulesen (siehe Surftipps). Ich war sehr aufgeregt. Im Hotel de Rome stolperte ich erst einmal über Christian Eigner, den österreichischen Live-Drummer der Band.

Ich band ihm nicht gleich unter die Nase, dass er fast alle klassischen Depeche-Stücke zertrommelt, denn man sah und roch ihm die Echo-Party vom Vorabend noch deutlich an. Und dann gings schon los. Gore trug das, was man wohl "expensive casual" nennt, nicht Ed Hardy, aber fast. Ich stelle mich vor: "Stephan". Er reichte mir die Hand: "Martin". Sehr höflich, hochprofessionell, eben sehr amerikanisch.

Als dein zweites Soloalbum rauskam, hast du gesagt, du würdest all die Solokünstler bedauern, die alleine unterwegs seien, da es mit einer Band backstage immer lustiger zugehe.

Ja, klar. Mit mehreren Leuten ist es immer witziger. Gestern (beim Echo) waren neben uns dreien noch Christian und Andrew dabei. Sagte ich Andrew? Christian und Peter natürlich!

Viele eurer Zeitgenossen konzentrierten sich meiner Ansicht nach zu sehr auf technisches oder soundfixiertes Songwriting und vergessen darüber oft den Song an sich. Gerade britische Bands. Glaubst du, dass deine amerikanischen Wurzeln hier eine Rolle spielen?

Ich bezweifle, dass das einen Einfluss auf mein Songwriting oder meinen Gesangsstil hatte, aber ich weiß es natürlich nicht. Jedenfalls bin ich in Essex groß geworden und erfuhr erst im Alter von 31, dass mein richtiger Vater Amerikaner war, ein schwarzer Amerikaner. Daher kann ich schwer beurteilen, inwieweit mich das beeinflusst hat.

Ich weiß nur, dass ich viel mehr Gospel-Musik höre als meine Freunde. Das ging schon los als ich 20 war. Aber natürlich habe ich mir diese Frage auch schon oft gestellt: Hast du das in deinen Genen oder nicht? (lacht)

Im Song "Perfect" gibt es die Zeile "I'm just a plain and simple singer". Das erinnert an Bob Dylans "I'm just a song and dance man". Hat dein Umzug nach Amerika dein Songwriting beeinflusst?

Interessanter Punkt, wenngleich auch diese Frage schwer zu beantworten ist. Ich finde, die Platte klingt positiver, ist schneller und vielleicht auch spiritueller. Letzteres würde ich zumindest "Peace" und "A Little Soul" zuschreiben. Ich will jetzt wirklich nicht wie ein New Age-Hippie klingen, aber die Tatsache, dass ich in Kalifornien lebe, mag auch ihren Teil zu den Songs beigetragen haben.

Ich muss bei eurem Album "Exciter", das ich kürzlich wieder für mich entdeckt habe, immer an die Hitze und Traurigkeit eines kalifornischen Vorabends denken. Sind die Songs 2000 auch schon in Kalifornien entstanden?

Nein, die Hälfte des Albums ist noch in England entstanden. Aber ich war schon am Übersiedeln.

Du hast diesmal mehr Songs geschrieben als je zuvor im Vorfeld eines Albums. Woher stammt diese Energie?

Da gibt es mehrere Gründe. Zum einen wusste ich, dass Dave wieder an einem Soloalbum arbeiten würde. Für mich bedeutete das: ein ganzes Jahr Zeit fürs Songwriting, ganz relaxt. So konnte ich mich auf mein eigenes Tempo konzentrieren und hatte keinen Druck von außen. Für jeden Song habe ich ungefähr ein paar Wochen benötigt.

Und du weißt immer, wann ein Song fertig ist?

Also, ich weiß meistens, wann ein Demo so weit ist, dass man es anderen Leuten vorspielen kann. Ein anderer Grund, warum es diesmal schneller ging, war, dass ich den Songwritingprozess aufs Laptop umgestellt habe. Das hat ziemlich Zeit gespart.

Die neue Platte ist strukturell sehr vielschichtig. Wie früh weißt du schon, welche Sounds den Songs später gut stehen? Früher hast du deine Demos ja bewusst einfach gehalten, damit im Studio viel experimentiert werden konnte.

Früher arbeitete ich meist auf der Gitarre die Grundakkorde, die Songstruktur und die Melodien heraus, natürlich auch den Text. Oder auch auf dem Klavier. Heute stehe ich manchmal auch am Keyboard, teste dort verschiedene Sounds oder programmiere etwas und beginne dann, dazu zu singen. Diesmal ging das aber erstaunlich schnell, eben wegen dem Laptop.

Und dann hatten wir einfach von der letzten Platte noch ziemlichen Schwung. Kaum waren wir von dieser sehr erfolgreichen Tournee wieder zu Hause, hatte ich das Gefühl, dass es gut wäre, so schnell wie möglich wieder neue Songs zu schreiben. Das ist auch eher ungewöhnlich, da es ein Leichtes für mich gewesen wäre, einfach ein Jahr Pause zu machen. Nach dem Motto: Soll Dave erstmal sein Soloalbum veröffentlichen, dann kann ich immer noch damit anfangen.

Bist du eigentlich ein 'natürlicher' Songwriter? Sprich: Musst du schreiben? Früher war es ja eher so, dass du Songs geschrieben hast, wenn es eben an der Zeit war, oder?

Ich schreibe nicht durchgehend. Wenn ich mich mal hinsetze und anfange, dann läuft es, aber sobald ich fertig bin, und wir zum Beispiel das Album aufnehmen, kehre ich nicht jeden Abend nach Hause zurück, um mich an neue Songs zu setzen.

Fiel euch der Titel "Sounds Of the Universe" eher früh oder spät ein?

Der kam schon ziemlich früh, wobei ich nicht mehr genau weiß, wie wir da draufgekommen sind. Er schien zu passen. Ich finde ohnehin, dass wir diesmal Sounds benutzen, die manchmal schon an 60s Space Age-Pop erinnern.

"Man glaubt immer, nur Drogen machen kreativ"

Deine Backingvocals sind eines der Depeche Mode-Trademarks. Wie genau entsteht diese zweite Stimme? Gestern hat "Wrong" mit deinem Einsatz ja auch erst richtig an Fahrt gewonnen.

Die zweite Stimme ist selten schon beim Demo eines Songs da. Das ist dann Studioarbeit. Dort ist das auch viel einfacher. Ich denke, das hat mit dem Umstand zu tun, wie Daves und meine Stimme zusammen harmonieren. Er hat diese mächtige Stimme, diesen Bariton, und wenn darüber dann meine eher dünne, weiche, oder wie immer man es nennen will, wenn beide Stimmen zusammen kommen, funktioniert es sehr gut. Die beiden Frequenzen ergänzen sich offenbar ziemlich gut.

Wie gehst du vor, wenn Daves Stimme einmal nicht richtig zu deinem Song passen will? Muss er improvisieren? Veränderst du dann deine Songs?

Das erste, was wir zusammen im Studio erarbeiten, ist die Tonart und das Tempo. Ich habe zum Beispiel eine nicht näher bestimmbare Tendenz, Songs langsamer aufzunehmen. Ich will die Demos wohl bewusst depressiv halten (lacht) Meistens müssen wir im Studio also das Tempo anziehen, wobei dieses Mal erstaunlich viele Songs das Tempo der Demos beibehalten haben. Was die Tonart betrifft, gehen wir meistens einen Halbtonschritt runter, manchmal auch einen ganzen. Dave singt eben auf einer tieferen Stufe.

Du hast auf dem neuen Album erstmals einen Song mit Dave gemeinsam geschrieben, wobei ich leider nicht weiß, welcher es ist.

Der Grund, warum du es nicht weißt, ist: Du hast ihn noch gar nicht gehört. Er ist nicht auf dem Album, wird aber auf eine Single und mit vier anderen auf das Boxset kommen. Es war allerdings keine wirkliche Kooperation. Ich hatte ein Techno-Instrumental geschrieben, das Dave sehr gut gefiel. Also nahm er den Song abends mit ins Hotel und arbeitete einen Text und eine Gesangsmelodie heraus.

Unterhaltet ihr euch heute mehr als früher? Tauscht ihr euch im Studio aus wie es andere Songwriter wahrscheinlich auch tun?

Nun, wir schreiben unabhängig voneinander. Sobald wir uns im Studio treffen, gerät aber ein ganzer Apparat in Bewegung. Es ist eher eine Kollaboration aller am Album Beteiligten, vom Programmierer bis hin zu Produzent Ben Hillier. Jeder einzelne Track bekommt sozusagen die gleiche Aufmerksamkeit von allen.

Am Ende dieses Prozesses ist es daher beinahe nicht mehr möglich zu sagen, wer eigentlich was geschrieben hat. Du kannst meiner Meinung nach anschließend nicht mehr klar und deutlich sagen: Das hier ist Daves Song.

Ich finde, man erkennt es an den Akkordwechseln.

Ja, vielleicht.

Ist euer Drummer Christian Eigner auch in den Kreativprozess involviert?

Er ist vor allem für die Live-Umsetzung unserer Songs wichtig und hat der Band dadurch eine ganz neue Sound-Dimension verliehen. Mit ihm wurden wir eine ganz andere Band. Im Studio sind wir nach wie vor eher elektronisch, auf der Bühne dann eine Liveband. Auf dieser Platte war er auch in den kreativen Prozess eingebunden, was nicht heißt, dass er die ganze Zeit bei uns im Studio war.

Wir schickten ihm Tracks, die er in Österreich bearbeitete und uns danach zurückschickte. Ich glaube er war an drei Tracks beteiligt. Und wenn wir das Schlagzeug dann bearbeiten, klingt es eh nicht mehr wie echte Drums. (lacht)

Im Vorfeld war ständig von eurer guten Laune im Studio die Rede, dass ihr noch nie so gut miteinander ausgekommen wärt. Man konnte fast schon Angst bekommen, die Platte würde am Ende auch so klingen.

Ich denke, es ist ein großer Mythos, dass eine Platte nur dann gut wird, wenn es im Studio Spannungen gibt. Man glaubt sowas immer sehr schnell. Oder dass man nur mit Drogen kreativ sein kann. Ich habe vor drei Jahren mit dem Trinken aufgehört, während unserer letzten Tour.

Das ist übrigens sehr wahrscheinlich ein weiterer Grund, warum ich dieses Mal produktiver war. Mehr Zeit, mehr Konzentration. Ich hing ja auch jahrelang dem Irrglauben nach, dass ich nie wieder einen Song schreiben könnte, wenn ich aufhöre zu trinken. Ich bin mir sicher, dass das nach wie vor viele Musiker und Künstler glauben.

Erinnerst du dich an den Augenblick, an dem du das Gefühl hattest, Depeche Mode könnte eine Karriere sein?

Puh, ich weiß nicht, das ist eine gute Frage. Wir schließen eine Sache immer zuerst ab, bevor wir weiter schauen. Die Leute fragen uns zum Beispiel immer, was wir nach einer Tour geplant haben. Keine Ahnung, wir haben dafür noch keine Pläne.

"Die deutschen Fans waren schon früh absolute Die Hards"

Die 80er Jahre endeten für euch sehr erfolgreich. Dann kamen die 90er und ihr wurdet noch größer. Was habt ihr anders gemacht als eure Kollegen?

Das ist schwer zu beantworten, vielleicht waren wir immer von Natur aus pessimistisch. Wir hatten nie das Gefühl, etabliert zu sein.

Glaubt ihr das heute immer noch?

Nein, heute vielleicht nicht mehr. Ich denke, seit den letzten Alben hat sich schon ein Gefühl breitgemacht, dass wir eine Hürde genommen haben. Wir wissen, dass wir schon sehr lange dabei sind und sehen eine Chance, noch ein bisschen länger dabei zu bleiben. (lacht)

Es heißt, ihr geht im Sommer erstmals auf Stadiontournee, dabei habt ihr doch schon oft in Stadien gespielt.

Ja, wir haben über die Jahre schon öfter in Stadien gespielt, aber eben nicht ausschließlich.

Macht ja auch mehr Sinn: Einmal Olympiastadion statt drei Mal Waldbühne.

Yeah (lacht) Nein, ich denke es ist interessant, dass wir nach 29 Jahren im Musikgeschäft populärer sind als jemals zuvor. Selbst zu den Hochzeiten von "Violator" und "Songs Of Faith And Devotion" hätten wir niemals auf eine Stadiontour gehen können. Und heute können wir das. Was ziemlich erstaunlich ist nach 29 Jahren.

Ihr habt eben die fanatischsten Fans überhaupt. Manchmal spielen sich da ja Szenen ab wie damals bei den Beatles.

Ja, in Deutschland hatten wir immer großes Glück. Unsere deutschen Fans waren schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt absolute Die Hards. Mittlerweile haben wir unseren Status aber in ganz Europa gefestigt. Ich meine, wir spielen in Paris im Stade de France.

Ja, ein Stadion für 80.000 Menschen.

Genau. Auch dort hätten wir mit "Violator" oder "Songs Of Faith And Devotion" nicht auftreten können.

Freust du dich schon, die neuen Songs live zu spielen?

Das mag jetzt verrückt klingen, aber wir finden unser neues Album so gut, dass wir am liebsten jedes einzelne Stück live spielen würden. Gleichzeitig wissen wir natürlich, dass das nicht geht. Wir müssen uns also auf ungefähr sieben einigen. Das wird wieder einige Diskussionen geben. Zumal es eben einfach alte Songs gibt, die wir spielen müssen. Denn wenn wir es nicht tun, würden sich die Leute beschweren.

Schließlich spielt ihr in Stadien.

Eben. Wir können da nicht rausgehen und die obskuren Sachen spielen, die kaum einer kennt.

Letzte Frage: Hast du gehört, dass Neil Tennant von den Pet Shop Boys in einem Interview erklärte, dass eigentlich ihr seinen Brit Awards verdient gehabt hättet?

Ja, haben wir. Das war sehr nett von ihm.

Er hat ihn dann aber trotzdem gern selbst behalten.

Wer weiß, vielleicht ist er schon in der Post.

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