laut.de-Biographie
Éliane Radigue
Es gibt eine kleine Gruppe an Frauen, die essentiell für die Geschichte der Synthesizer-Musik und der Electronica, aber in den Abgründen der kanonischen Musikgeschichtsschreibung verschollen sind. Éliane Radigue ist einer dieser Namen: Bis heute kennen manche Nerds die Bilder dieser Frau, die zwischen futuristischen Wänden analoger Synthesizer ganze Schriftrollen mit komplexen Illustrationen und Visualisierungen vollmalt. Sie ist eine der größten Klangforscherinnen der Musikgeschichte, das Bindeglied zwischen Musique Concrete und dem Ambient oder dem Drone. Vielleicht ist sie immer zu nischig gewesen, um allgemeine Anerkennung zu finden. Ihr bis heute anhaltendes Wirken verdient alle Aufmerksamkeit, die sie bisher nur in spezifischen Fachkreisen erhielt.
Als Kind von mittelständischen Franzosen wächst sie während dem zweiten Weltkrieg heran. Trotzdem finanzieren die Eltern in der Nachkriegszeit ein Konservatorium für Klavier, wo sich Radigue bereits als gewisses Talent hervortut. Sie macht Musik im lokalen Chor, spielt ihre Stücke, aber merkt schon, dass etwas an den konventionellen Notationen nicht ausreicht, um ihr wanderndes Interesse nachhaltig zu halten. In den Fünfzigern verliert sich ihr Fokus langsam, sie lernt einen Mann kennen und hat drei Kinder.
Hier würde leider die Geschichte von vielen talentierten Musikerinnen enden. Nicht so für Radigue: Denn gemeinsam mit ihrer Familie zieht sie nach Nizza, wo sie eine neue Faszination entwickelt. In der Nähe ihrer Wohnung steht ein Flughafen, landende und abfliegende Flugzeuge segeln täglich über ihr ein und aus. Was andere als Lärmbelästigung sehen würden, nimmt sie schnell als faszinierende Klangkulisse war. Das Alltägliche, Regelmäßige, Unterschwellige schlägt sie ihren Bann. Sie sucht nach anderen Menschen, die sich für diese Facette von Klang interessieren und kommt in Kontakt mit einer Szene von Fluxus-Fans in Nizza. Dort trifft sie auch Pierre Schaeffer.
Der nimmt sie mit nach Frankreich, um elektronische Musik und Musique Concrete zu studieren. Auch Pierre Henry trifft sie dort, damit ist sie umgeben von zwei essentiellen Figuren der französischen Experimentalmusik, querköpfige Komponisten und alle Synthesizer, die die Gegenwart von Frankreich der Fünfziger hergibt. Dort schreibt sie ihre ersten Annotationen für Maschine, die sie berühmt machen sollen. Aber noch nicht so bald. Erst muss sie zurück nach Nizza, ihre Kinder brauchen Geld, um zur Schule zu können, die klassischen Fallen des Frauseins nehmen sie in ihren Bann. Sie versucht sich zu Hause wieder an klassischerer Musik wie Klavier oder Harfe, aber reüssiert wenig und trotz ihres Talents verliert sich auch der Kontakt mit ihren ehemaligen Mentoren.
Erst in den späten Sechzigern findet sie den Kontakt zu Schaeffer wieder und beginnt, ihre ersten Kompositionen aufzuführen und zu veröffentlichen. Es entstehen Werke wie "Jouet Electronique" oder "Elemental I", die an der Schwelle der Sechziger zu den Siebzigern herauskommen. Darauf folgen zehn Jahre, in denen sie den Weg der französischen Kunstmusikszene geht und sich im Rahmen der Post-68er-Bewegung als Klanginstallateurin etabliert. Im Laufe der Sechziger gelingen ihr viele prominente Proto-Drone-Pieces wie "Labyrinthe Sonore" (1970), "Stress Osaka" (1970) oder "Opus 19" (1971).
Sie reist, bereitet Collagen und Ausstellungen weltweit vor und entwickelt einen Ruf, wirklich etwas von der Modulation und dem Minimalismus zu verstehen. In den Siebzigern beginnt sie, sich für Buddhismus zu interessieren und lernt über verschiedene Konzepte unter verschiedenen Lehrmeistern in Paris und New York und entschließt sich schließlich selbst zu mehreren Reisen nach Südindien. In der selben Zeit sterben mehrere ihrer Angehörigen. Sie beginnt ihre letzte große elektronische Arbeit, "Trilogie De La Mort", eine Verarbeitung des tibetanischen Totenbuches in einer lebendigen Drone-Komposition, die insgesamt drei Stunden misst.
Trotz ihrer vielen Starts und Stops als Musikerin nimmt ihre Karriere nun ein unaufhörliches Momentum an und sie hört quasi nie mehr auf, ihre musikalische Vision zu verfolgen. 2001 setzt der aktuelle Arc ihrer Karriere ein, in dem sie die Drone-Stücke mit akustischen Mitteln rekonstruiert. Daraus entsteht die Reihe namens "Occam Ocean", deren Ableger "Occam River" oder "Occam Delta" inzwischen nahezu 100 Session-Alben mit verschiedensten Live-Musikerinnen und Musikern hervorgebracht hat.
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