laut.de-Kritik

Ein musikalischer Rorschachtest.

Review von

Bevor wir anfangen, lasst uns ein kleines Spiel spielen. Geht auf YouTube und sucht den Albumtitel, so lange ihr noch gar keinen Kontext dazu habt. Das ist gut so. Es ist eine Überraschung. Scrollt nicht in die Kommentare, lest nicht weiter, klickt es blind an und hört eine Minute. Deal? Okay, ich warte hier auf euch.

Das ist ein Text, ich laufe nicht weg.

Okay, geschafft? Cool! Kurz durchatmen und resümieren, was ihr bisher gehört habt. Ihr dürft auch vorsorglich schon einmal einen schnippischen Kommentar schreiben. Jetzt geht, und hört euch noch zwei weitere Minuten an. Ich warte wieder hier.

Geschafft? Danke für die Geduld!

Zwei Informationen konntet ihr bisher nicht umschiffen, wenn ihr meinen Anweisungen gefolgt seid. Erstens: "Transamorem Transmortem" macht "Bwwww" wie ein wütender Kühlschrank in einem David Lynch-Film. Zweitens: Das Ding hat eine Spieldauer von einer vollen Stunde. Die logische Frage: Passiert da noch was? Die einfache Antwort: Nein, das bleibt so.

Die genauere Antwort jedoch wäre: Doch, durchaus. Es ist nur nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Falls ihr meinen Bullshit noch nicht satt habt, dann geht noch einmal zum Album zurück und skippt einfach wahllos drauflos, ein paar Mal, und ihr werdet merken, dass da in der Zusammensetzung des Klangs doch etwas anders ist. Vielleicht findet einen Punkt, der euch sympathisch erscheint, und ihr lasst von da loslaufen, während ich euch ausführlich erkläre, in welche prätentiöse New Age-Kunstkacke ich euch heute schleifen werde.

Falls euer Tipp "Drone" oder "Ambient" lautet, dann liegt ihr tatsächlich daneben. "Transamorem Transmortem" wurde 1973 komponiert, also ein paar Jahre bevor Brian Eno den Ambient erfindet. Sogar noch ein bisschen bevor Harold Budd seine Neoklassik langsam in diese Richtung lenkt. Tatsächlich stammt das Stück von einer der großen Pionierinnen der elektronischen Musik: Éliane Radigue zählt neben Pauline Oliveros, Daphne Oram und Suzanne Ciani zu den ganz wichtigen Frauen in der Erforschung von Synthesizern und der experimentellen Musik.

Japp, wir reden von den richtig schlimm übel prätentiösen Wichsern. Von den Schülerinnen und Schülern von John Cage und La Monte Young, von denen, die Fluxus und Happenings und manipulierte Klaviere und Krachkonzerte gemacht haben. Radigue gehörte 1955 zu einer Keimzelle von Musikern und Musikerinnen in Nizza, die sich genau damit beschäftigen. Sie ist klassisch musikalisch ausgebildet, singt im Chor, besucht halbtags ein Konservatorium, aber weil in ihrer Nachbarschaft ein Flughafen steht und sie täglich Flugzeuge landen und abheben sieht, entwickelt sie eine Faszination für die Melodien und Klangformen des Alltäglichen.

Mit dieser Sehnsucht nach radikalem Minimalismus rennt sie bei Pierre Schaeffer offene Türen ein. Der experimentelle Komponist holt sie, nicht gerade zur Begeisterung ihres Mannes und ihrer drei Kinder, ins Studio d'Essai nach Paris, wo die Musique Concrete mitgeboren wurde. Radigue wird wissenschaftliche Hilfskraft von Schaeffer und Pierre Henry und bekommt Zugang zu all den elektronischen Instrumenten, zu denen man in den Fünfzigern Zugang haben konnte, und beginnt, komplett alles für sich in Anspruch zu nehmen. Im Lauf der nächsten fünfzig Jahre komponiert sie an die hundert Arbeiten, erst für Synth, später auch für analoge Instrumente. Jede einzelne ist eine Studie in Klangfarbe und Langsamkeit. Es ist Musik, die für Drone und Ambient elementarer Vorgänger ist, sich aber andere Ziele steckt.

Mit diesem Kontext: Was ist "Transamorem Transmortem"? In ihrem Buch "Intermediary Spaces" - aus dem ich übrigens die meisten meiner Infos gezogen habe, es lohnt sich – gibt sie an, von diesem Text zu dem Stück inspiriert worden zu sein: "Before the greatest achievement / Before the greatest detachment. At the limit of the frontier space / the unconscious – tuned waves – consonant things vibrate together. Where does the change happen? In the inner field of perception or the exterior reality of moving things in the course of becoming. And time is no longer an obstacle, but the means by which the possible is achieved."

Ich übersetze einmal laienhaft und unliterarisch: "Vor dem großen Erringen / Vor dem großen Aufgeben. An der Schwelle zum grenzenden Raum / im Unbewussten – in der Harmonie der Wellen – vibriert aller Einklang mit sich selbst. Wo setzt die Veränderung an? Im inneren Bereich der Wahrnehmung oder in der äußeren Realität der sich bewegenden Dinge, der Prozesse? Dort, wo Zeit kein Hindernis mehr ist, sondern das Medium, in dem das das Mögliche sich zusammensetzt."

So, letzte Eckdaten, dann lassen wir den Kontext zurück: Aufgenommen wurde das Stück mit einem ARP 2500-Synthesizer, einem Konkurrenz-Produkt zum in den Siebzigern beliebt gewordenen Moog-Synth, produziert von Alan R. Pearlman. Weil der aber vor allem Studio-Nerds, nicht Popmusikerinnen im Kopf hatte, legte das gerade einmal 100 Mal hergestellte Instrument mehr Wert auf hochpräzise und komplexe Modulations-Möglichkeiten und eine Sicherheit gegen abdriftenden Ton, der gerade für Radigues Geduldspiele wichtig war. Andere prominente Nutzer dieses Geräts waren Jean-Michel Jarre und die Krautrock-Band Faust. Radigue schrieb illustrierte Notizen zu langen, improvisierten Sound-Jams, Bilder von ihr, gebeugt über gigantische Papierrollen voller Diagramme, sind ihre ikonischste Darstellung. Hatte sie eine gute Tongrundlage gefunden, notierte sie den Ursprungsort und die genaue Form der Modulation, die schließlich zu dem Stück führen sollte.

Wow, so viel technischer Mumbojumbo, aber all das tänzelt nur um die eine, allmächtige Frage: Was soll das alles eigentlich und warum will man sich derartiges anhören? Beschließen wir diese Review mit einem komplett subjektiven Ausblick, denn ich bin nun schon ein paar Jahre fasziniert von diesen ungreifbaren Klang-Monolithen. Ein Freund von mir, den ich zum Hören zwang, sagte, sie klingen wie über den Wolken. Einsam, aber nicht negativ einsam, ein bisschen sakral und ein bisschen astral.

Ich schließe mich diesem Eindruck grundsätzlich an. Wenn man sich auf "Transamorem Transmortem" einlassen kann, entführt das Tape in eine sehr undramatische Schwerelosigkeit. Es entzieht sich Pathos und Kitsch, es ist ein wenig denkender Klang, er biedert sich weder an, noch stößt er ab. Es ist ein so neutrales Anwesen, dass man fast auf die Frage stößt, wie überhaupt man eine emotionale Reaktion auf diese Musik formulieren soll. Es fällt dann auf einmal überraschend leicht, sich komplett auf den Klang einzulassen. Ein bisschen, als betrachte man einen Film Frame für Frame, ein bisschen wie ein monochromes Gemälde angucken. Einen Akkord halten. Es zwingt einen zu einer sehr Material-basierten Auseinandersetzung mit Musik, zur Frage: Was macht dieser Klang mit mir? Aber es ist eben kein isolierter Sound. Der coolste Moment kommt, wenn man langsam bemerkt, dass da nicht eine, sondern mehrere Wellen gleichzeitig stattfinden.

Ich habe es beim Schreiben der Review angemacht und bin gerade bei 38:30, falls ihr in den genauen Moment einsteigen wollt. Ich höre jetzt gerade das gutturale Dröhnen, das sich immerzu kurz zurückzieht und dann wieder bricht. Darunter pulsiert ein rhythmischeres Flimmern, dessen Tempo aber immer ein bisschen vor- und zurückwippt. Über allem schwebt diese grelle, etwas anstrengende Störgeräuschfrequenz, die sehr selten kurz flimmert. Ab und zu schwappt ein Knacksen oder Rauschen des Mikrofons ins Bild. Ich habe dieses Album schon ein paar Mal ganz gehört, meine Assoziationskette verändert sich immer ein wenig. Ich dachte schon ans Schweben, an Helikopter, an die Unterwelt, an Nebel, wahrscheinlich ist das Tagesform-abhängig.

Ist es prätentiöse Kunstkacke? Hell, yeah, absolut! Aber was Musik angeht, findet man kaum eine so radikale, aus geringeren Mitteln gestrickte Grenzerfahrung wie die Arbeit von Éliane Radigue. Es ist so etwas wie ein musikalischer Rorschachtest, wenn man sich bildlich hineindenken möchte. Vor allem aber ist es eine Übung im Zuhören, in der langsamen, kontemplativen Aufmerksamkeit, wenn man es einfach nur für sich stehen lassen möchte. Es ist der Mittelweg für alle, denen Ambient zu pathetisch und Cages "4'33" zu nihilistisch ist.

Aber das Schöne daran bleibt: Diese Musik befindet sich so jenseits von Gut oder Schlecht, von Erfolg oder Misserfolg, es ist eine reine, physische Erfahrung, bei der niemand genau berechnen kann, was dabei herauskommt, wenn man sich ihr wirklich aufrichtig aussetzt. Deshalb ist "Transamorem Transmortem" für mich ein Meilenstein: Hier verbirgt sich die Möglichkeit, die Neugier, eine Erfahrung mit Musik zu machen, die man so noch nie gemacht hat. Ein Erfahren von Klang jenseits jeglicher musikalischer Konventionen.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Transamorem Transmortem

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8 Kommentare mit 23 Antworten

  • Vor einem Jahr

    Pionierin und Wegbereiterin der elektronischen Musik. Die kennt man, wenn man einen gewissen musikalischen Horizont hat. Pierre Schaeffer, Pierre Henry, Music Concrète, Laurie Spiegel, um ein paar Namen zu nennen, mit denen Radigue zu tun hatte. Nix für Kleingeister, die sind schnell überfordert. :D

    • Vor einem Jahr

      Wenn alle mit einem "gewissen musikalischen Horizont" so eine zum Kotzen schnöselige Bildungsbürger-Attitude vor sich her tragen wie Du, bin ich sehr froh, nicht zu diesem erlauchten Kreis zu gehören.

    • Vor einem Jahr

      Er ist eben ein HS, sollte inzwischen niemanden mehr überraschen.

    • Vor einem Jahr

      Der ist wie der Trottel Sancho, der stolz darauf ist, schon sehr viele Filme gesehen zu haben. Erde an Wackintosh: jeder Idiot kann viel Musik hören, deine 3000 CDs sind nix zum Profilieren, du Minderleister!

    • Vor einem Jahr

      Jö, die Kleingeister beißen brav an. Läuft. :D

    • Vor einem Jahr

      P.S. Wieso ist eigentlich in der „Fan Rubrik“ bei den Kleingeister immer so ein irrelevanter Kack … Hmmm … :D

    • Vor einem Jahr

      Haha, bestätigt mal wieder alle meine Vorurteile über Applejünger

    • Vor einem Jahr

      Überheblich, peinlich, kleinlich, dumm.

    • Vor einem Jahr

      Music (sic!) Concrète war schon ein ganz großer Name in der Szene.

    • Vor einem Jahr

      Die Deltron3030 der elektronischen Musique.

    • Vor einem Jahr

      "Die kennt man, wenn man einen gewissen musikalischen Horizont hat."

      Auf jeden Fall nochmal danke, dass du für diejenigen, die keinen musikalischen Horizont haben, nochmal direkt formuliert hast, wo sie stehen. Das macht die ganze Sache unkompliziert und vermeidet unnötige Diskussionen im Umgang mit deiner Hochbegabung.

    • Vor einem Jahr

      CAPSI, Niveau sieht nur von unten aus wie Arroganz. :D

    • Vor einem Jahr

      Es ist schon ne Leistung ausgerechnet hier das größte Dunning-Kruger-Fallbeispiel zu sein.

    • Vor einem Jahr

      Och CAPSI, du verstehst ja nicht einmal den Dunning-Kruger Effekt. Da geht es um Inkompetenz. Was glaubst, wer eine höhere musikalische Kompetenz besitzt? Derjenige, der wie ein Kurator die besten Künstler und Alben der letzen 60 Jahren und Musik der letzten 500 Jahre in einer Sammlung vereint, oder einer der am Wegrand nur das Gestrüpp pflückt, auf das sein beschränkter Geschmack anspricht und am Ende mehr oder weniger das gleiche Unkraut in die engere Wahl kommt?

      Aber checken wir das mal durch. :D

      Inkompetente Menschen neigen dazu …

      … ihre eigenen Fähigkeiten zu überschätzen.

      Ich: Nein, ich kenne meine Stärken und Schwächen. Meine Schwäche ist, dass meine soziale Kompetenz ausbaufähig ist, aber meine Stärke ist, dass ich mit sozialen Eierkraulen nicht die Anerkennung holen muss, die ein schwaches Ego braucht wie Wasser zum trinken.

      CAPSI: Hat keine große musikalische Kompetenz, aber tut so als hätte er sie.

      … überlegene Fähigkeiten bei anderen nicht zu erkennen.

      Ich: natürlich erkenne ich überlegene Fähigkeiten, sonst würde ich nicht jeden relevanten Musiker der letzen 600 Jahre in meiner Sammlung haben.

      CAPSI: Erkennt nicht einmal meine Großartigkeit, wie soll er da in der Musik was erkennen.

      … das Ausmaß ihrer Inkompetenz nicht richtig einzuschätzen.

      Ich: Wenn es um Fußball oder Quantenphysik geht, da bin ich eine echte Null. Und das ist echt präzise und korrekt eingeschätzt. Also funktioniert.

      CAPSI: Ja, dem CAPSI fehlt einfach das selbstreflektierende. Vor allem in Bereich Musik kann er das Ausmaß seiner Inkompetenz schlecht einschätzen.

      … durch Bildung oder Übung nicht nur ihre Kompetenz zu steigern, sondern auch lernen zu können, sich und andere besser einzuschätzen.

      ICH: Tja, irgendwann vor langer, langer Zeit war ich auch musikalisch ziemlich inkompetent. Aber das hat sich um 180 Grad gedreht. Deswegen kann ich heute mich und andere besser einzuschätzen. Deswegen ist meine Analyse immer so gnadenlos korrekt. :D

      CAPSI: Wird schon, mit viel Bildung und Übung wirst auch du mich mal richtig und korrekt einschätzen. Aber anstrengen musst du dich schon mal. :D

    • Vor einem Jahr

      Wow, mucho Rechtfertigungsbedarf? Du bist und bleibst ein Gourmand, der sich für einen Gourmet hält.

    • Vor einem Jahr

      Wow, die HipHop Kackbratzen sind wirklich nicht die hellsten Kerzen am Luster. Abgesehen davon, dass ich mich nicht gerechtfertigt habe, sondern dir klar dein Problem beschrieben habe, scheitert das Straßenkind auch schon wieder grandios. Da ich selber koche und wie in allen Disziplinen auch hier großartig bin, muss ich dir leider mitteilen, ich bin aufgrund meines umfangreichen Wissens ein astreiner Gourmet und halte von Maßlosigkeit überhaupt nichts, weil da der Genuss auf der Strecke bleibt. Es ist ein Fest der Sinne und nicht ein dumpfer Akt der Primitivität am Sportplatz. So, jetzt schieb dir, deinem Stand entsprechend, eine Tiefkühlpizza rein und belästige nicht mehr den Gott des kulinarischen Genusses. :D

    • Vor einem Jahr

      Capsi: Du hälst dich für eine Gourmet
      Applemac: ich bin ein Gourmet!!!!!

      :lol:

    • Vor einem Jahr

      Jo, CAPSI. Ich will dir ja nur helfen, deine groben Fehleinschätzungen zu beheben. Ich weiß, man braucht extrem viel Geduld bei den hoffnungslosen Fällen, aber selbstlos wie ich bin, geb ich nicht auf. Du kannst es schaffen, wenn Erde, Mond und Sonne eine 9 ins All malen. Ich zähl auf dich. :D

    • Vor einem Jahr

      Du bist wirklich großartig @Applemac!

    • Vor einem Jahr

      Ach du grüne Neune!

    • Vor einem Jahr

      @DerWeiseHai
      Können auch Männer H***n sein? Was hast du eigentlich für ein Rollenbild, wieso eigentlich auch immer so aggressiv?

    • Vor einem Jahr

      It's a thin line between Kurator und Knorkator. Just sayin.

    • Vor einem Jahr

      correct brother and you cannot make omelette withoute break some eggz

  • Vor einem Jahr

    Dieser Kommentar wurde vor einem Jahr durch den Autor entfernt.

  • Vor einem Jahr

    Nachhilfe für Unwissende. Geile Doku und Titel. Sisters with Transistors. :D

    https://youtu.be/YceI6MDjbv4