laut.de-Kritik
Eine Londoner Partynacht wie ein Klang gewordener LSD-Trip.
Review von Florian DükerDas zweite Werk von Everything Is Recorded, dem kollaborativen Studioprojekt von XL Recordings-CEO Richard Russell, skizziert eine freitägliche Partynacht aus mehreren Perspektiven. Jeder der zwölf Tracks beinhaltet dabei eine Uhrzeit, die symbolisch für eine bestimmte Nachtphase steht - beginnend um 21.46 Uhr und endend am nächsten Morgen um 11.59 Uhr.
Wie auf dem Debüt vor zwei Jahren lud Russell, der im letzten Jahrzehnt Alben für Gil Scott-Heron, Bobby Womack und Ibeyi produzierte, wieder unterschiedlichste Künstler ein und rührt eine unnachahmliche Mischung aus Genres scheinbar mühelos zusammen.
Die irische Sängerin Maria Somerville und der Londoner Rapper Berwyn, selbst in der britischen Szene noch eher unbeschriebene Blätter, stimmen gemeinsam mit den ersten beiden Tracks auf eine wilde Partynacht ein. "The night won't last forever" singt Somerville mit reichlich Reverb und Echo und daher wird auch keine Sekunde verschwendet - das Intro dauert gerade mal etwas mehr als eine Minute. Dass die Nacht nicht ewig dauert, weiß auch Berwyn und wiederholt das Mantra auf "10:51 PM / THE NIGHT". "I been working all day and all night", singt Berwyn und freut sich, nun die Sau raus zu lassen.
Russell, Somerville und Berwyn fangen den Vibe des nächtlichen Londons und die Ungewissheit des weiteren Fortgangs wunderbar ein. "10:51 PM / THE NIGHT" lebt vom verdammt coolen Gitarrenriff und zeigt, dass die Hip Hop/Rock-Kombination auch 2020 noch funktionieren kann. "12:12 AM / PATIENTS (FUCKING UP A FRIDAY)" hingegen verbindet Hip Hop mit Electronic- und Dance-Elementen, "01:32 AM / WALK ALONE" sogar Rave und Disco.
Ob Infinite Coles, dem Sohn von Wu-Tang Clan-Legende Ghostface Killah wohl schon einmal jemand gesagt hat, dass er ein bisschen wie eine Mischung aus D'Angelo und Khalid klingt? Besonders zu Beginn von "01:32 AM / WALK ALONE" muss man zweimal auf die Gästeliste schauen, um sich zu vergewissern, dass nicht tatsächlich die Soullegende D'Angelo dort verzeichnet ist, auch wenn sie nie Features verteilt.
Wen dann "01:32 AM / WALK ALONE" noch nicht Richtung Dancefloor schickt, den holt spätestens der darauffolgende Track ab. "01:32 AM / WALK ALONE" leitet wunderbar zu "02:56 AM / I DONT WANT THIS FEELING TO STOP" über und zeigt, dass Russell wohl schon das ein oder andere DJ-Set gespielt und Erfahrungen mit ziemlich coolen Transitions gesammelt haben muss.
Von 1.32 Uhr bis mindestens 3.15 Uhr wird also durchgetanzt. Wer dazu bei "03:15 AM / CAVIAR" nicht mehr in der Lage ist, den zwingt Russells Instrumental aber zumindest zum Kopfnicken, denn dieser Beat ist ein absolutes Brett. Dass Ghostface Killah diese Featureanfrage nicht ablehnen konnte, erscheint absolut logisch. Darüberhinaus ist auch Sohnemann Infinite Coles wieder auf dem Song vertreten und welcher Vater könnte schon "Nein" zu einem Duett mit dem ambitionierten Nachwuchs sagen?
An Schlaf ist noch lange nicht zu denken. Wir gelangen zu "04:21 AM / THAT SKY" und was auch immer wir uns den ganzen Abend über eingeworfen haben, entfaltet so langsam seine volle Wirkung. Selten wirkte ein Song, der auf einer Kontrabass-Linie basiert, so trippy und chaotisch. Maria Somervilles und James Massiahs wider- und nachhallende Stimmen klingen in Kombination mit Russells Instrumental wie ein Klang gewordener LSD-Trip.
Damit der Trip nicht zum Albtraum wird, entspannt eine verspielte Klaviermelodie und ein ebenso langsamer wie beruhigender Trommelschlag die Gemüter auf "05:10 AM / DREAM I NEVER HAD". A. K. Paul, Mitgründer des Paul Institutes und Bruder des sagenumwobenen Jai Paul, bildet mit seinem Gesang und Falsetto im Hintergrund sowie seiner Gitarre eine tolle Symbiose mit Samphas Synths und Klavierspiel.
"09:35 AM / PRETENDING NOTHINGS WRONG" beginnt mit einer disharmonischen Orgel, die den Hörer unsanft weckt und zurück in die Realität holt: Wie zum Teufel bin ich nach Hause gekommen? Wo ist mein Scheiß-Handy? Hab ich meine Brieftasche noch? Das sind die Fragen, die sich Kean Kavanagh auf dem Track stellt: "Stop the fucking world I'm flayed / What a fucking mess i’ve made / Nights that sabotage my days / Maybe that's the way I'm made". Unterbrochen werden Kavanaghs fatalistische Feststellungen zweimal durch ein zum Rest des Songs wunderbar konträres Soul-Sample, das Russell ebenso schnell und überraschend wieder verschwinden lässt, wie er es in den Äther geschickt hat.
Der Morgen entwickelt sich schwerfällig, das Frühstück fällt aus, denn der Toast ist verbrannt, während Berwyn so langsam seinen Verstand verliert. Trotz des ganzen Schmerzes und der Einsamkeit hat er seinen Frieden gefunden: "I prayed so much god probably blocked my number, shit he had to", rappt er auf "10:02 AM / BURNT TOAST". Würde das Album mit "11:55 AM / THIS WORLD" enden, hinterließen Russell, Infinite Coles und Maria Somerville uns zwar eine wunderschöne, im Chor überbrachte, aber sehr deprimierende Botschaft: "This world's gonna break your heart / There'll be no place to lay your head". Doch glücklicherweise hat Penny Rimbaud das letzte Wort, Musiker, Produzent, Sounddesigner, Schriftsteller und Gründer der Anarcho-Punk-Band Crass. Über Drums und einem Streicherensemble trägt er ein Gedicht vor, das die Botschaft von Coles und Somerville aufnimmt und erweitert: "If there is light we do not intrude upon it and if there are tears, know that it rains also more powerfully than our sorrow / Circles, always circles / This world's gonna break our hearts ... with joy".
Richard Russells Konzept geht voll auf: "Friday Forever" verdient die volle Aufmerksamkeit des Hörers und holt sie sich mit der unbändigen Qualität der Songs, aller Mitwirkenden und nicht zuletzt der wahnsinnig detaillierten und abwechslungsreichen Production.
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