laut.de-Kritik
Zucker, Zucker, Zucker, fast durchweg raffiniert.
Review von Dennis RiegerBroadway-Streicher, heftiges Pathos, die ganz große Mitsing-Refrain-Geste: Im fast neuneinhalbminütigen Titeltrack seines sechsten Studioalbums unter dem Namen Father John Misty fährt Joshua Tillman vieles auf, worauf Rezensentinnen und Rezensenten in den meisten Fällen allergisch reagieren. Das tut er nicht zum ersten Mal. Seit seinem Zweitling "I Love You, Honeybear" gönnt sich der romantische Zyniker immer mal wieder musikalische Ausflüge, die anderen Musikern ebenso wenig verziehen würden wie der Albumtitel "Mahashmashana".
Was hebt die Big-Band-Ausflüge des 43-Jährigen von Fließband-Songs fürs Seniorenradio ab? Es sind die Texte, manchmal anspruchsvoll, oft klug, noch öfter ironisch gebrochen, fast immer gelungen. Mit Betonung auf fast. Der Stream of Consciousness des Titeltracks wirft beim Hören eine Frage auf: Ist musikalischer Schmalz kein Schmalz mehr, wenn er von einem komplizierten Text konterkariert wird? Kein uninteressanter, aber ein gewagter Opener. Sechs zweifellos gute bis hervorragende Stücke folgen auf dem acht Songs langen Album.
Im ungewohnt groovigen "She Cleans Up" intoniert Tillman exzellent, lässt die – im Rahmen eines Rocksongs außergewöhnlich vielen – Sätze geschickt ineinanderfließen. Das lyrische Ich sinniert über den Film "Under The Skin" und das Frauenbild im Christentum. Sarkastische Zeilen wie "It's a good thing God gave us someone on whom we can depend to clean up!" und "I know just how this thing ends!" lassen den Schluss zu, dass Tillman gegen einen religiös begründeten Backlash hinsichtlich Frauenrechten ansingt. Angesichts des Ausgangs der diesjährigen US-Präsidentschaftswahlen vielleicht der richtige Song zum richtigen Zeitpunkt, in jedem Fall ein auf musikalischer und lyrischer Ebene hervorragender.
Ob die Titelwahl von "Josh Tillman And The Accidental Dose" verdeutlichen soll, dass es sich hier um mehr als eine fiktive Geschichte handelt? Möglich. Unabhängig davon überzeugt der jazzige Track mit geschmackssicherem Streichereinsatz. Tillman beschreibt mit im besten Sinne poetischen Worten einen Drogentrip so plastisch wie unorthodox. Dabei lässt er offen, was der Grund für die vermeintlich unfreiwillige Dosisaufnahme war. Die einleitenden ("She put on "Astral Weeks" / Said "I love Jazz!" and winked at me") und die abschließenden Worte ("I ate an ice cream / Dazed in the street / But it'd never taste quite as sweet / Again") sprechen dafür, dass eine in die Brüche gegangene Liebesbeziehung das lyrische Ich zum Halluzinogen greifen ließ. Auch das süffig instrumentierte Outro sitzt.
In "Mental Health" treffen herzallerliebst fiedelnde Streicher und warme Bläser auf traurige Lyrics. Das klingt, als intoniere Robbie Williams mit Kammerorchesterbegleitung einen Morrissey-Text. Bekanntes Father-John-Misty-Territorium also. Auch ein Chor lässt den auf verquere Weise großartigen Song nicht ins Lächerliche abgleiten.
Die Wall of Sound des Refrains von "Screamland" irritiert zunächst. Autotune-Einsatz? Bassdrum? Schielt hier jemand, unterstützt von BJ Burton, gen Single-Charts? Abseits des streitbaren Refrains zweifellos ein weiterer toller Song. Das wunderschöne "Being You" erinnert mit seiner angenehm zurückgenommenen Instrumentierung und seinem bittersüßen Text wieder stärker an Harry Nilsson als an Harry Styles. Anschließend zieht "I Guess Time Just Makes Fools Of Us All" das Tempo an. Tillman bildet dylaneske Assoziationsketten, die im Gegensatz zu jenen im Titeltrack glücken, ein Gitarren-, ein Percussion- und ein Saxophon-Solo sorgen dafür, dass der rhythmisch akzentuierte Achteinhalbminüter durchweg spannend bleibt.
Alles rosig also nach dem Opener? Nicht ganz. "Summer's Gone" schließt das Album mit Old-Hollywood-Streichern ab und klingt, als sei es wahlweise einem Musical oder dem unmittelbaren Vorgängeralbum entnommen worden. "Chloë And The Next 20th Century" wirkte in Teilen wie ein verwegenes Experiment mit dem Ziel, herauszufinden, wie viel Schmalz man Indie-Connaisseuren zumuten kann, bis sie "Kitsch!" (oder schlimmer: "Mainstream!") schrei(b)en. Die Empirie zeigte: Sehr viel! Auch beim Hören von "Summer's Gone" drängt sich das K-Wort auf, das man gegenüber einem angesehenen Künstler zwecks eigener Reputation nicht verwenden sollte. Ebenso wie im Falle des Titeltracks wünscht man sich eine dezenter instrumentierte Fassung jenes Songs.
Zwei überzuckerte Nummern umklammern eine ansonsten sehr gute LP, ja, das beste Father-John-Misty-Album seit "Fear Fun". Was sonst noch auffällt? Joshua Tillman, der vorangegangene Werke der eigenen Diskografie schon mal als "prätentiös" schmäht, benannte sein mit zahlreichen kulturellen Anspielungen gespicktes Album mit dem altindischen Wort für Feuerbestattungsplatz. Ein Schelm, dieser Father John Misty!
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