laut.de-Kritik

Die Mutter aller Weltuntergänge.

Review von

Es gibt Alben, die uns eine Geschichte erzählen. Den meisten gelingt diese Immersion durch ihre Texte, durch einen Schwall an Worten, die unsere Gedanken in Bilder verwandeln. Die effektivsten Alben dieser Art verzichten allerdings beinahe vollends darauf. Sie opfern ihre singulare Leseweise zugunsten von freier Assoziation. Jeder Akkord, jedes neue Instrument, jedes Crescendo flutet unser inneres Auge mit hunderten Bildern und Szenarien, und es liegt an uns die Geschichten zu finden, die sich zwischen den Noten verbergen.

Der in Struktur oft der klassischen Musik ähnelnde Post-Rock ist ein dafür prädestiniertes Genre. Aufgrund ihrer ausladend üppigen Instrumentation und Wortkargheit bieten die Songs und Alben dieses Genres reichlich Raum, die Lücken mit der eigenen Vorstellungskraft zu füllen, und in dieser cineastischen Coleur sind Godspeed You! Black Emperor Stanley Kubrick.

Binnen Sekunden saugen sie uns in eine andere Welt, eine Welt, die sich seit dem Release ihres Debüt-Albums "F#a#∞" unentwegt mit ihrem Untergang konfrontiert sieht. Im Laufe ihrer sieben Studio-Alben ließ das ominöse, kanadische Kollektiv wieder und wieder die Welt untergehen. Nie wieder gelang es ihnen jedoch so schön, so furchteinflößend, so grandios, so endgültig und so greifbar wie am 8. Juni 1988.

F#

"The car’s on fire and there's no driver at the wheel."

Niemand kann behaupten, es hätte ihn überrascht. Sehenden Auges fütterten wir die Maschine, die unsere Zivilisation zersägte, bis nichts zu zersägen übrig war und uns der erstickende Qualm die Sicht nahm. Die Städte sind leere Hüllen, Sarkophage aus Beton, und die Hinterbliebenen leisten sich ein lebensmüdes Wettrennen, sie weiter zu füllen. Die Maschine stottert noch immer, selbst wenn der Sarkophag zu platzen droht, sie wird als letztes zum Erliegen kommen.

An diesem Morgen war der Himmel schwarz. Nicht grau, schwarz. So schwarz, dass die verschmutzen Schemen der wenigen verbliebenen Wolken kaum mehr auszumachen waren. Es war keine Veränderung, die schlagartig kam, aber an diesem Morgen wurde jedem klar, das es zu spät ist, für Reformen, für große Reden, für Versprechen, für alles. Minuten nachdem du deine Augen öffnest, hörst du die ersten erstickten Schreie. Wärst du nur einen Augenblick früher erwacht, hättest du noch die Silhouette deines Nachbars gesehen, der mit leeren Blick an deinem Fenster vorbei in die Erlösung stürzte. In den folgenden Stunden taten sie es ihm zu Hunderten gleich. Das Klagelied, dass eine Gitarre in deinem dröhnenden Schädel anstimmt, lässt dich der Endgültigkeit dieser Situation bewusst werden. Es übermannt dich mit Traurigkeit und Furcht. Du willst weinen, aber dein Körper verwehrt es dir.

Hinter einer Sinflut an Emotionen, derer du nicht Herr wirst, sticht eine messerscharfe Violine wie eine Nadel in dein Hirn. Mit ihr wachen Erinnerungen auf, die all die unausweichlichen Fragen mit sich tragen, denen du dich die letzten Jahre verwehrt hattest. Auf der Suche nach Antworten treibt es dich nach draußen, auf die mit Suiziden gepflasterte Straße, die du dein ganzes Leben dein Zuhause nanntest. Inmitten der leblosen Körper stolpern andere umher, die ebenso wie du hoffen, irgendetwas zu finden, das sie am Leben hält. Das Gerippe eines ausgebrannten Familienwagens zieht deinen Blick auf sich. Dir wird schlecht. Noch aggressiver als zuvor bombardieren die Stiche der Violine deinen Hypothalamus. Das entfernte metallenene Dröhnen eines Zughorns übertönt dein Würgen. Mit ihm keimt ein flüchtiger Funken Hoffnung in deinem verwirrten Geisteszustand auf.

Du lächelst. Das erste Mal an diesem Tag. Dein nassgeschwitztes, von Staub belegtes Haar klebt an der Scheibe einer alten Dampflok. Die vergangenen Stunden hast du bereits jetzt aus deiner Erinnerung gelöscht und in dein Unterbewusstsein verdammt. Erstmals beginnen deine Gedanken sich zu lichten, schon vor einer Weile verstummte die Violine. Als du die Stadt verlässt und dich die dahinterliegende Einsamkeit der Prärie verschluckt, musst du an die Cowboy-Filme denken, die du als Kind so gerne nachgespielt hattest. Über die graue und tote Realität legt sich vor deinem inneren Auge ein Filter, der die Seen sich wieder füllen und Flora und Fauna wieder zum Leben erwecken lässt.

Der begleitende Soundtrack klingt als würde man den Pathos des Wilden Westens zu Grabe tragen. Minutiös verlierst du dich mehr und mehr in deiner Fantasie. Selbst die Violine erhält wieder Eintritt, sie rundet das von einer akustischen Gitarre und leisen Drums bestimmte Klangbild erst ab, sticht dir nicht mehr ins Hirn, sondern schmiegt sich vorsichtig an dein in Flammen stehendes Herz. Wohin fährt dieser Zug überhaupt? Wieder willst du weinen. Dieses mal kommen die Tränen wie von selbst.

A#

"God give us peace, happiness, and love"

Irgendwo spielt jemand Dudelsack. Ein schwacher, dreckiger alter Mann klammert sich an deinem Hosenbein fest. Seine Worte sind die eines ungerechten Gottes, von dem er sich abzuwenden verwehrt. Er verspricht Erlösung und Liebe, doch seine vom Wahnsinn verfärbten Augen verraten, das er zunehmend Schwierigkeiten hat, seinen eigenen Worten Glauben zu schenken . "Hallelujah" stöhnt er, als du ihn abschüttelst. Seine Worte hallen jedoch noch eine Weile zwischen deinen Ohren nach, ihr hoffnungsvoller Ton bereitet dir Kopfschmerzen.

Um dich herum erstreckt sich das absterbende Krebsgeschwür einer fremden Stadt. Einst
fand man hier das Tor zur Unterwelt, wo Opiate und Handfeuerwaffen darum kämpften, wer mehr Grabsteine zierte, nun gähnt einem nur ein weiterer Ausläufer der urbanen Tundra entgegen: überwuchert, grau und leer. Zum ersten Mal erkennst du die Schönheit darin. Mit dem plötzlichen Ende überschritt auch dieser Brutkasten menschlicher Tragödien seine Halbwertszeit. Die deutlich angeschlagene Natur hat noch nicht aufgegeben, noch kämpft sie zurück. Die Gitarren in deinem Kopf weinen auf, zerstört den Moment der Ruhe. Du hörst wieder die Violinen, sanft dieses mal, und plötzlich hat die Melancholie ihr Wohlgefühl zurückgewonnen.

Deine Gedanken entwickeln schnell ein Eigenleben. Wieso ist hier niemand, fragst du dich. Stets glaubst du einen Schemen in deinen Augenwinkeln ausmachen zu können, doch mit jedem Mal, als du dich umdrehst, lacht dich das deprimierende Bild der leergefegten Straßen ein wenig lauter aus. Die Ruhe nimmt beunruhigende Züge an. Also setzt du dich in Bewegung. Du weißt nicht mal, wie du hierher gekommen bist, aber willst plötzlich ganz schnell wieder fort. Die Gitarre gibt den Ton an, sie spielt dasselbe Riff wie zuvor nur schneller, oder sind es zwei Gitarren? Die Stiche der Violine schmerzen wieder. Ein Schlagzeug steigt mit ein, hämmert gegen deine Schädeldecke. Deine Beine spürst du nicht mehr, aber du hörst Schritte hinter dir, da bist du dir ganz sicher. Du willst nicht herausfinden, worauf dieses Crescendo hinausläuft. Deine Schritte werden schneller und schneller, du schließt die Augen und hoffst, dass irgendetwas oder irgendjemand dich erlöst.

Das Konzert in deinem Schädel verstummt, du bleibst abrupt stehen, gibst auf. Bevor du dich überhaupt umdrehst, wird dir allerdings klar, dass nie jemand hinter dir her war. Welcher Tag ist heute eigentlich? Müde schüttelst du die Paranoia aus deinen Knochen, atmest tief durch, und blickst zurück auf die nach dir lechzende Zunge aus aufgeplatzten Asphalt. Die sich dir offenbarende Leere liegt schwer auf deinem Herzen, sie jagt dir eine Heidenangst ein.

Mit der dich schlagartig übermannenden Nacht beginnt es um dich herum, zu surren und zu knistern, eine Stimme, von der du dir nicht sicher bist, ob sie wirklich da ist, redet von einem Lastschiff. Hochfrequentierte Störsignale torpedieren deinen immer noch vernebelten Verstand. Mit jeder Sekunde steigen sie in der Intensität, wie ein hungriges Insekt beißen sie sich durch deine Hirnwindungen und verbieten das Fassen eines klaren Gedankens. Inmitten dieser Wolke aus statischem Rauschen machst du ein Geräusch aus, das all deine Nervenleitungen unter Starkstrom stellt. Du kämpfst dich zu ihm durch, bis du es benennen kannst: Rotorenkreisen. Irgendwo da draußen fliegt ein Helikopter.

Für den Moment reicht diese Erkenntnis aus, um an deinem Verstand festzuhalten. Du bist nicht mehr allein. Du musst an den alten Mann und seinen Dudelsack denken: Wird er alleine sterben? Macht es einen Unterschied? - Hallelujah.

Infinity

"But d'you think the end of the world is coming?
No. So says the preacher man but... I don't go by what he says
"

Die Violine scheint dich fast zu bemitleiden. Lauter denn je leistet sie dir Gesellschaft während du in einer monotone Endlosschleife den Boden aus Kies und Dreck unter deinen einzig durch duct tape zusammengehaltenen Schuhen umgräbst. Den Helikopter zu finden war nicht schwer. Nur kurze Zeit, nachdem du das Kreisen seiner Rotoren wahrnahmst, folgte ein Knall und eine pechschwarze Rauchsäule, die sich im Licht der schwachen Morgensonne deutlich vom mausgrauen Horizont abzeichnete. Natürlich fandest du keine Überlebenden. Das liegt nun bereits Monate zurück, oder sind es Jahre?

Das leise Klimpern eines Glockenspiels hilft dir, nicht weiter darüber nachzudenken. Es macht dich auf etwas aufmerksam: Da, nur wenige hunderte Meter vor dir schleppt sich eine weitere verlorene Seele durch dieses ausgebrannte Nirvana. Es ist nicht die Person, der du über den Weg läufst, seit dir das Wrack des Helikopters die Luft abschnürte. Nur musstest du schnell feststellen, dass die wenigsten von ihnen deine Freude über Gesellschaft teilten. Dieses Mal wird es allerdings anders sein, das spürst du. Eine Trommel stimmt einen Marschrhythmus an, lässt wieder einmal Hoffnung in dir aufkeimen. Deine Beine halten dich kaum noch aufrecht, doch dein schneller werdender Schleppschritt fühlt sich zunehmend wie fliegen an. Nur langsam holst du auf, doch in deinem Schädel tobt ein Feuerwerk der Euphorie. Du weißt nicht, ob dein Verstand eine weitere Enttäuschung verkraftet.

Du blinzelst und fällst zu Boden. Der Mann ist fort. Nein, er war nie da. Oder doch? Spricht da nicht jemand zu dir? Stimmen fluten dein Gehör, Hunderte, nein Tausende. Du bist so nah dran auszumachen, was sie dir zu sagen versuchen, doch jedes Mal wenn du eines ihrer Worte zu fassen bekommst, gleitet es dir wieder aus deinen Fingern. Der Lärm ist lähmend. Du beißt die Zähne fest zusammen und presst die Lider so fest aneinander, dass es dir Schmerzen bereitet.

Als der Lärm abebbt, öffnet er die Schleuse für euphorisch jubelnde Gitarren und einen Strom an Erinnerungen. Du weigerst dich, deine Augen zu öffnen. Ein wohliges warmes Gefühl breitet sich in deinen Gliedern aus. Ein Mandala an Emotionen kocht vor deinem inneren Auge hoch. Sommerregen, der Geruch von gegrilltem Speck und frisch gewaschener Wäsche, ein zu Bruch gegangener Bilderrahmen, ein weinendes Baby, das Zischen einer Bierflasche, und immer wieder dieser gottverdammte Cowboy-Film. Wie gerne würdest du jetzt diesen Film sehen.

Als du die Augen wieder öffnest, regnet es und dir ist kalt. Kalter Wind peitscht auf deinen malträtierten Körper ein. Dir fehlt die Energie aufzustehen. Deine Gedanken verlangsamen sich, irgendwo in deinem Unterbewusstsein spielt ein Lied, mit dem du Emotionen verbinden solltest. Doch wo eben noch ein Kaleidoskop an Erinnerungen dein Emotionszentrum in Brand steckte, erklingt nun nur noch eine betäubende Drohne. Das statische Rauschen kommt zurück. Du holst ganz tief Luft, schließt wieder die Augen, und siehst einen strahlend blauen Himmel vor dir. Du lächelst.

Dann springt die Platte und du wachst auf. Der Weltuntergang muss sich noch bis morgen gedulden.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. The Dead Flag Blues
  2. 2. East Hastings
  3. 3. Providence

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8 Kommentare mit 6 Antworten

  • Vor einem Jahr

    "Lift your skinny fists for F#A#Infinity as a milestone!"

    *versteckt sich in der Menschenmenge und lässt die eh ziemlich wurstfingerige Faust geballt in seiner Hosentasche, weil auf "Lift your skinny fists..." als Meilenstein gesetzt

    • Vor einem Jahr

      Zu neu, die wurde hier ja schon zerrissen, mal sehen wann man den Fehler korrigiert. Bei In Absentia hats anderthalb Dekaden gebraucht, Racinee Carreé wartet immer noch drauf, wurde aber immerhin von Mirko in der Multitude-Review gewürdigt.

  • Vor einem Jahr

    Bei Musik bin ich geduldiger als ein Mönch. Aber bei Providence skip selbst ich manchmal ein paar Minuten vor.
    Das Album ist natürlich als Debüt einer der wichtigsten Post Rock Bands zurecht ein Steyn, aber mir persönlich gefallen die Nachfolger Alben besser.

  • Vor einem Jahr

    Ich glaube mir ist das zu reduziert. Ich bevorzuge eher Pure Reason Revolution oder Archive. Aber sehr, sehr ausführlich beschrieben. Scheint viele Menschen sehr glücklich zu machen. Gut.