laut.de-Kritik
Ein letztes Farewell.
Review von Dani FrommRoger Whittaker zählt zu diesen Künstlern, die eine ganze Generation traumatisiert haben. Wir Siebzigerbabys, Achtzigerkinder, wir wissen Bescheid. Wir sprechen von diesem Schlagersänger, der mit seinen Klamotten in Beige und Braun, der Brille und dem Bart aussah wie ein Erdkundelehrer der drögeren Sorte. Aus unerfindlichen Gründen liebten aber alle Mütter diesen wahrscheinlich sogar netten, aber absolut uncharismatischen Typen. Was wiederum bedeutete: Seine betulichen Liedchen über ewige Liebe, Sehnsucht und das scharfe Schwert mit Namen Abschied dudelten tagein, tagaus aus irgendeinem Kassettenrekorder, vom Plattenspieler oder aus dem Autoradio. Was haben wir ihn verachtet.
Dass ich inzwischen komplett im Reinen mit Roger Whittaker bin, kam so: Vergangenes Jahr fuhren wir in den Urlaub. Die (zugegebenermaßen leise bekloppte) Idee: Wir reisen noch einmal nach Spanien, an den Ort, wo mein Mann seine Kindheitsferien zugebracht hat. Er war einst jedes Jahr mit seinen Eltern dort, man fuhr, das machte man damals irgendwie so, quasi am Stück durch, ohne Übernachtung. Eine lange Fahrt, während der, so lange der Vater am Steuer saß, ausschließlich Reinhard Mey-Kassetten liefen. Nur wenn Mutti ein Stück fahren durfte, hatte sie die Kontrolle über den Rekorder. Dann erfüllte der Bariton von Roger Whittaker das Wageninnere.
Ich wollte meinem Gemahl nun authentische Flashbacks bescheren, entsprechend habe ich die Begleitmusik für diesen Trip zusammengesucht. Okay, ich wollte ihn auch ein bisschen quälen: Nichts als Mey und Whittaker würde er unterwegs zu hören bekommen, wie früher. Ich kam mir mächtig diabolisch vor, und auch ein bisschen witzig, bis mir viel zu spät auffiel: Fuck, ich sitze ja AUCH in diesem Auto. Verdammt. Ich bin so dumm.
Es stellte sich heraus: Reinhard Mey ist der Teufel, absolut unerträglich in seiner zopfigen Selbstgefälligkeit, wenn die FDP ein Liedermacher wäre - here you go. Roger Whittaker dagegen geht voll klar. In seinem wahrhaftig ausufernden Werk entdeckten wir unterwegs sogar einige echte Perlen. Tolle Folk-Songs, entschiedene Anti-Kriegs-Lieder, die man in Zeiten wie diesen gar nicht oft genug hören kann, und, Himmel, konnte der Mann pfeifen! Wie gesagt: Ich bin völlig im Reinen mit Roger Whittaker.
Im September 2023 ist er gestorben. Ihm ein letztes Farewell hinterherzurufen, erscheint nur angemessen, genau wie die Form, in der das geschieht. Angesichts seiner umfangreichen Diskografie muss es schon ein Box-Set sein. Drei Alben mit je zwanzig und mehr Stücken, das sollte dann aber reichen, um Whittakers Talente und seine Bandbreite zu zeigen und vielleicht das eine oder andere Kindheitstrauma zu heilen. So schlimm wars doch gar nicht.
Oder?
Leider ließ, wer auch immer diese Tracklisten zusammengestellt hat, die Chance ungenutzt vorüberziehen, mit dieser Kompilation zu belegen, was für ein vielseitig begabter Musiker Roger Whittaker doch war. Wer davon wenigstens eine Ahnung bekommen möchte, braucht einen wahrlich langen Atem. Doch den wird, fürchte ich, nicht aufbringen, wer erst einmal stundenlang das Erwartete um die Ohren gepfeffert bekommt.
Die komplette erste Platte dieses Konglomerats umfasst genau den Schlagerschmonz, für den unsere jugendlichen Ichs diesen Whittaker so geschmäht haben. Vermutlich wollen seine deutschen Fans aber exakt das hören: sattsam bekannte, kreuzbrave Liedchen über Liebe, Trennung, Sehnsucht, Reue, Heimkehr und Wiedersehen, vorgetragen in angenehmen Bariton mit lustigem Akzent, bieder instrumentiert. Bloß niemanden aufregen.
"Albany" darf da natürlich nicht fehlen, der Gassenhauer über Bruderliebe und Bruderzwist markiert mit Dudelsack und Rührtrommel in seinem Highlander-Cosplay sogar einen Ausreißer nach oben. Gleiches gilt für "Yarmouth Kai", das mit seiner maritimen Bilderwelt von Fischern im aufziehenden Sturm und ihren besorgten Lieben an Land, die im Schatten des Leuchtturms ihre sichere Heimkehr erwarten, ebenfalls ein wenig aus dem Rahmen fällt.
Davor und danach geht es aber meistens um das Glück, das in den kleinen Dingen steckt, in inniger Zweisamkeit oder dem trauten Heim. Klar, wer die ganze Welt gesehen hat, weiß "Ein Glückliches Zuhaus" wahrscheinlich erst richtig zu schätzen, oder ein Buch, ein Glas Wein, ein Tässchen Kaffee, so als Krönung der schönsten Stunden. Ja. Wir erinnern uns genau.
An "Einfach Leben" kann gedanklich andocken, wer sich schon einmal von Grübeleien um den Schlaf gebracht fühlte und von der Flucht vor den Alltagssorgen träumte. Also quasi jede*r. Genau so anschlussfähig sind offenbar Liebeslieder wie "Du - Du Bist Nicht Allein" oder "Leben Mit Dir" oder nostalgieduselige Rückblenden wie "Bring Mir Noch Einmal Die Jahre Zurück". Eine Prise Hawaii im Sound wird auch gerne genommen. Wen juckts, dass Whittaker die angesungene "Eloisa" eher spanisch vorkommt? Es juckt sowieso niemanden irgendetwas, Songs von Roger Whittaker tun nicht weh.
Statt irgendwen zu verstören, stimmt er ein Duett mit Tochter Jessica an. Zwei-, dreimal hatte sie sich dem Papa zuliebe zu gemeinsamen Songs breitschlagen lassen, erzählte sie einmal in einem Interview, obwohl sie selbst es mehr als kitschig fand. Diese Einschätzung unterstreicht "Glaubst Du Noch An Wunder": Es wirkt, als säße da ein kleines Mädchen auf dem Knie des Weihnachtsmannes, und der fegt ihre große Frage, wie es denn Wunder geben könne, bei dem ganzen Elend in der Welt, mit einem Ho-ho -ho! und der lächerlichen Aufforderung beiseite, doch einfach ein bisschen Vertrauen zu haben und ein Lichtlein anzuzünden. Ein Lichtlein! Na, vielen Dank.
Danach verpufft aber jedes bisschen Aufregung. "Good Night Lady" klingt wie direkt aus dem Vorspann einer heimeligen 80er-Jahre-Vorabendserie des Typs "Ich heirate eine Familie" geschnitten, zwei weitere ruhige Stücke wiegen vollends in den Schlaf. Ecken und Kanten gibts nicht, hier stößt sich wirklich niemand an irgendwas - bis jemand auf die Idee kam, zwei Stereoact-Remixe ans Ende von Disc 1 zu klatschen. Sie stehen da wie ein Fremdkörper, brezeln das eben Gehörte für die Schlagertanzparty auf, indem sie - was sonst?! - einen Discofox-Bummsbeat drunterlegen, und wiederholen dabei nicht bloß die eben schon abgehakten Hits noch einmal im Schnelldurchlauf, sondern auch sich gegenseitig.
Aller Groll auf diese beiden Tracks schwindet aber angesichts der Feststellung, die die zweite Platte beschert: Es geht noch deutlich schlimmer. Hängt der Zusatz "Remix 2024" oder "Version 2024" am Tracktitel, dürfen wir das getrost als Warnhinweis verstehen. Um Roger Whittakers Songs - angeblich - in die Moderne zu hieven, investierte offenbar niemand mehr Mühe, als sie unsensibel auf einen etwas wuchtigeren Konservenbeat zu pressen. Egal, ob es passt oder nicht. Egal, ob Gesang oder irgendwelche anderen Songelemente daneben verblassen. Es war zu erwarten, schade ist es trotzdem.
Bitter schade auch, dass "I Don't Believe In If Anymore" bei der Songauswahl wohl unter den Tisch gefallen ist. Whittakers vielleicht entschiedenstes Friedensplädoyer? Ist nicht drauf. Immerhin bekommen wir "River Baion", das ebenfalls durchblicken lässt, dass hier jemand spricht, der die Schrecken des Kriegs gesehen und für absolut nicht wiederholenswert befunden hat. Auch hier pumpt der modernisierte Beat aber vollkommen an der Thematik vorbei.
Jesses, und dann auch noch ein Duett mit Patrick Lindner? Über Träume im Sonnenschein? Zu Hülf! "Sing Ein Lied Mit Mir" lohnt sich aber trotzdem, weil Roger Whittaker hier zum ersten Mal sein Können als Kunstpfeifer auspacken darf - doch schon im sechsten Song auf der zweiten Platte. Es folgen noch ein paar solche Momente, wenn auch derer viel zu wenige. Zunächst stehen große Fragezeichen auf der Tracklist: Wer hat diesen Effekt auf der Stimme in "Maiden Song" mit einer guten Idee verwechselt? Ist "The Leaving Of Liverpool" nun Folk oder doch ein waschechter Country-Song? Fällt "Gipsy" schon unter kulturelle Aneignung?
Danach pfeift Roger endlich wieder. Den "Desert Eagles" schickt er direkt noch weitere "Two Eagles" hinterher, und wenig später "Die Schneeweißen Tauben", die, anders als das Geflügel vom Kollegen Hans Hartz, so müde noch gar nicht sind. Klammern wir uns an den hier beschworenen Optimismus, der Blick aufs aktuelle Weltgeschehen lässt ahnen: Wir werden ihn brauchen.
Über die schmierige Stalkerstory "Der Mann Von Nebenan", verbrämt mit noch schmierigerem Saxofon breiten wir galant den Mantel des Schweigens und springen direkt zu "Die Schönen Zeiten", die es zu genießen gilt. Och, joh. Ein Duett mit dem belgischen Crooner Helmut Lotti beendet den zweiten Teil dann doch ganz würdevoll, logisch, mit "The Last Farewell".
Wer wenigstens ein bisschen Neues über Roger Whittaker erfahren will, ist mit der dritten Platte im Bündel am besten bedient. Auch hier steckt viel nicht so wahnsinnig aufregendes Material drin, Interpretationen von "Morning Has Broken", "Streets Of London" oder John Denvers "Leaving On A Jet Plane" etwa. Außerdem intoniert Whittaker "What A Wonderful World" (of Louis Armstrong-Fame), "Everything I Do" (of Bryan Adams- und Robin Hood-Fame) oder "Always On My Mind" (of Brenda Lee-, Elvis-, Willie Nelson- oder Pet Shop Boys-Fame). Songs, die jede*r kennt, die nirgends anecken, was sollte da schief gehen?
Daneben gibt es allerdings einiges zu entdecken. Duette mit dem britischen Entertainer Des O'Connor oder der niederländischen Popsängerin Anny Schilder, zum Beispiel. Endlich lässt Whittaker auch seine afrikanischen Wurzeln durchscheinen: Er kam in Kenia zur Welt, verbrachte dort Kindheit und Jugend, leistete Militärdienst und wurde prompt in die Schlacht geschickt, ist also durchaus befugt, "My Land Is Kenya" zu behaupten. Die Chorgesänge in "Oh Africa": leider trotzdem wieder ausgesprochen zahm.
Immerhin erfahren wir wenig später von der Existenz eines Tiers namens "Gerenuk": Afrikanische Giraffen-Antilopen sind das, hätten Sies gewusst? Im verspielten, Kinderlied-artigen Charakter des Songs scheint Whittaker regelrecht aufzublühen. Es folgt ... ein Rap? Den in Majuskeln im Kopf blinkenden Gedanken BITTE NICHT! wischt "S.A.F.A.R.I. Rap" dann aber gut gelaunt vom Tisch. Klar flowt das in etwa so smooth wie eine eingerostete Version des "Wham! Rap". Es ist aber auch einfach lustig.
"Tu Es Ma Mélodie"? Guck an, Französisch kann der Mann also auch. Außerdem hat er die merkwürdige Gabe, zwei von drei seiner Songs wie Weihnachtslieder klingen zu lassen, auch wenn es, wie hier oder auch im voran gegangenen "Try To Remember" gar nicht um Weihnachten geht. "Durham Town (The Leavin')", eine ganz frühe Single, noch unter dem zusammengestutzten Namen "Rog Whittaker" erschienen, lässt tief in des Sängers Biografie blicken und erklärt vielleicht ein bisschen, warum sich seine Lieder gar so oft um Abschiede drehen.
"The Last Farewell" gibts natürlich auch wieder, und das gleich doppelt: Die Version von 1982 wirkt, als sähe man auf einem alten Schwarzweiß-Fernseher eine Revue, Frauen in schwingenden Kleidern schweben übers Parkett, im Hintergrund führt eine Showtreppe gen oberen Bildrand. Das wirklich letzte "Last Farewell" stimmt am Ende ein gewisser Mr. Presley an. Auch das erscheint angemessen: Er hatte, erzählt man sich, seinerzeit persönlich bei Whittakers angerufen und um grünes Licht gebeten, den damals fünf Jahre alten Song covern zu dürfen. Wie man seit 1976 hören kann: Erlaubnis erteilt. Farewell, Roger!
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