laut.de-Kritik
Der Haudegen-Sänger begeistert mit reifem Solodebüt.
Review von Ulf KubankeMit Haudegen hat der ehemalige Hip Hopper Joe Rilla alias Hagen Stoll einen kaum für möglich gehaltenen und extrem erfolgreichen Stilwechsel vollbracht. Nun muss ein Soloalbum her. Der sympathische Wuchtbrummer schickt sein Publikum vom Degen in die Traufe und serviert Deutschrock pur mit fettem Roots-Einschlag. Im Ergebnis klingt sein "Talismann" wesentlich reifer, sinnlicher und vielseitiger als die ersten Platten der Mutterband.
Schon das Wortspiel im Titel ist typisch für ihn. Mit dem doppelten Buchstaben "N" wird jedem klar: es geht nicht um babylonische Amulette, sondern um den bärigen Balou aus Marzahn. Genau so klingt es dann auch. Alles feinsäuberlich zugeschnitten auf seine seltene Gabe, ein stets empathisches Gefühl zu zaubern.
So bastelt Stoll sich seinen ganz eigenen Dschungel voll rhythmischem Groove, erdigem Sandpapier-Gesang und stilistischer Vielfalt. Erst mit dieser Platte scheint die künstlerische Neuerfindung vollendet. Hier etwas Country, dort eine Prise Polka und über allem thront der alte Schmerzensmann Blues wie ein Dach. Der Berliner gräbt geschickt dermaßen viele Wurzeln aus, als habe er Zeit seines musikalischen Lebens nichts anderes gemacht.
Die neu entdeckte Vielseitigkeit verkommt zum Glück nicht zu Beliebigkeit oder Schaulaufen. Entsprechend klingen die Lieder wie aus einem Guss. Wurde mit Haudegen bislang eher die Suche und der Übergang dokumentiert, gibt es hier endlich das Finden und Erfinden echter Nuggets auf die Ohren.
Die Texte zeigen seine Weiterentwicklung ebenso deutlich. Es gibt weder das humorbefreit-aggressive Pathos eines neuen deutschen Neosoul-Propheten, noch die im frei.wild-onkeligen Narzissmus gefangenen Rockrächer der Enterbten. Auch das sinnentleerte Kitschtheater so manches selbst ernannten Grafen ist ihm fremd.
Stattdessen gibt Stoll ganz und gar unprätentiös, null verbittert und wohltuend selbstironisch das Auf und Ab des Lebens wieder. Damit hat er mehr von der Philosophie des Blues verstanden als manch anderer, der das schon seit Jahrzehnten betreibt. "Schieb Den Blues" bringt es auf den Punkt: "Auch die Nudeln von gestern machen satt / Nur diese Pfanne ohne Griff, die ist für'n Arsch / Weißte, es geht immer auch noch schlimmer / Die eine Socke frisst die Waschmaschine immer." Ähnlich gut klingt auch das fette "Mo Money Mo Problems".
Die Hitdichte ist erstaunlich. Als König der Ohrwürmer entpuppt sich "1,2,3,4, Leben". Eine Art Speed-Polka samt Bläser-Tamm-Tamm, die er zurückhaltend, aber filigran mit ein paar hintergründigen Blues-Zutaten würzt. Wenn bei diesem Partyklopper die Tanzfläche leer bleibt, hat man definitiv die falschen Gäste eingeladen.
Die Liebe liegt dem alten Romantiker thematisch ebenso gut. "Zwei Tickets Zum Mond" spielt sich unspektakulär aber effektiv weit nach oben auf die Skala ganz alter Gassenhauerschule. Ein Ensemble akustischer und elektrischer Gitarren gibt gelungen den Sidekick für seinen unaufgeregt gefühlvollen Refrain: "Und wenn du willst, machen wir gleich los!"
Inmitten dieses bunten Sammelsuriums erhebt sich die philosophische Killerballade "Das Wort Glauben" wie ein Adler. Der Song transportiert kein dümmliches Religionsbashing und auch kein blindes Gottvertrauen. Stattdessen stellt Stoll die Fragen des Skeptikers und misstraut allem, was der Mensch im Namen des Glaubens für eigene Zwecke proklamiert. "Und es ist immer dasselbe / Sie erzählen von einem Traum / Ich habe ihn tausend mal geträumt / Und dann höre ich sie sagen: Jeder weiß wohl, was sie meinen / Doch ganz ehrlich: Nein!"
Somit ist das Solodebüt Hagen Stolls das reifste Werk seiner bisherigen Karriere. Wie Oscar Wildes gutmütiger Riese zeigt der freundliche Hüne dem Publikum einen Garten voll bunter Songs, die hoffentlich der Beginn und nicht das Ende (s)einer musikalischen Reise sind. In einem Interview verriet er kürzlich, dass er u.a. sehr auf alte Klaus Lage-Tracks stehe. Doch ganz ehrlich: Nein! Stoll hat die Veteranen des Deutschrock längst überholt.
7 Kommentare mit 3 Antworten
Whut whut, das ist aus Joe Rilla geworden? Gar nicht mitbekommen, krass!
Und dann auch noch vom Anwalt rezensiert, dann muss er bzw. sein Stilwechsel ja authentisch sein
Reinhören werd ich mal, aber bin doch sehr skeptisch - Haudegen war (oder ist?) ja ganz großer Mist.
Nur, weil Haudegen nicht dein Geschmack ist, musst du es nicht als "ganz großen Mist" deklarieren! Haudegen war UND ist wunderbarer Deutschrock, der in's Herz geht!
Steht "wunderbarer Deutschrock, der ins Herz geht" nicht im Synonymwörterbuch unter "ganz großer Mist"?
Manche meckern lieber erst ... bevor sie ihr Urteil bilden ^^
Interessante Musik. Kenne die Musik des Herren davor nicht, also Hip Hopp aka Joe Rilla, aber dass hier weiß zu gefallen. Bisschen Polka, bisschen Blues, bisschen Country, leichter Rock Einfluss und ne kleine Prise Murder my Death (die ich gerne höre). Schöne Musik. Danke für den Tipp.
11ter Stock, klingel bei Rilla!
Ein klasse Album. Es ist ein fröhlich beswingtes Stück Platte,mit charmantem Gesang. Und textlich gibt es deutlich mehr her,als die meisten deutschen (Mainstream-) Künstler von sich geben. Hätte ich nicht gedacht,wobei die erste Single schon vielversprechend klang.
Für meine Begriffe tauchen auf der Platte Musik- oder Textelemente von Grönemeyer, Graf, Onkelz, Cash, JJ-Cale, Lage, Westernhagen, of Crime, Liedermacher, Country, Grass, Polka, Klezmer, Storyteller, Balladen, DeutschRock, Blues, Ska (börlin/Balkansound) usw. auf. Muss man natürlich nicht mögen, tue ich aber sehr Beginnt schnell und geil und endet langsam und schön und dann nochmal ein schnelles Finale... Vielleicht schon fast zu Hitlastig, 1-2 Songs mit mehr Kanten hätte ich mir noch gewünscht. Egal, ich liebe das Album