16. April 2006

"Selbst die geliebte Frau wird irgendwann langweilig ..."

Interview geführt von

Seine körperlich ausladende Art, die Saiten zu bearbeiten, macht Harald Härter-Gigs zu einem Augen- und Ohrenschmaus.Ihm zuzusehen, wie er sich biegt und windet, sich in Ekstase spielt, wie seine Soli in einem wilden Orgasmus explodieren, ist ein packendes und unvergessliches Erlebnis. Und er ist einer der bedeutendsten, wenn nicht der bedeutendste Jazzgitarrist aus Europa. Laut.de trifft einen bestens gelaunten und redseligen Harald Härter.

Deine momentane Tour spielst du mit dem amerikanischen Saxophonisten Arthur Blythe, auf deiner vergangenen Tournee war Michael Brecker an der Tröte. Du spielst deine Gigs mit auffällig vielen Gästen - was ist denn das für ein Kuddelmuddel?

(Lacht) Das ist kein Kuddelmuddel, sondern die ideale Lösung, um Langeweile vorzubeugen. Wenn man sehr eingespielt ist und viele Konzerte in dergleichen Besetzung gibt, wenn man sich als Band sehr gut kennt und viel spielt, ist die Gefahr groß, wie selbstverständlich dahin zu spielen. Man kennt sich dann zu gut, um noch wahnsinnig viel Spannung aufkommen zu lassen. Der Stamm meiner Band ist immer der Gleiche, damit ist eine vertrauensvolle Basis im Zusammenspiel gewährleistet, weil man sich sehr gut und intuitiv kennt. Man kann machen, was man will. Aber ich will auch immer wieder neue Farben kennenlernen. Neue Vorgehensweisen, Themen, Changes und Jazzmusik überhaupt. Das passiert nur, wenn man sich farbig umgibt, am liebsten von Trompeten und Saxophonen, meinen Lieblingsinstrumenten.

Wir haben einige Gigs der vergangenen Tour mit Michael Brecker gespielt, andere mit Eric Truffaz, Joe Lovano, Dewey Redman oder Johannes Enders. Das hat prima geklappt, weil alles hervorragende Musiker sind, die intuitiv einen Draht zueinander finden. Eric Truffaz ist fast in Ohnmacht gefallen, als ich ihn angerufen und eingeladen habe, mit Michael Brecker und mir eine Tour zu spielen. Da spüre ich natürlich die Freude. Die wollen miteinander, und ich mit ihnen. Aber natürlich wähle ich sie bewusst aus und spiele nur mit denen, bei denen ich sicher weiß, dass es kompatibel ist. Dadurch ist die Farbe gewährleistet. Das ist, als ob du Tag und Nacht mit deiner geliebten Frau zusammen bist, irgendwann wird es langweilig und du brauchst Abwechslung, auch wenn es dein geliebtester Mensch ist. So ist es auch mit meiner Band.

Das ist eine ausführliche Antwort, die mir jeglichen Zündstoff für weitere Provokationen nimmt. Eigentlich wollte ich ja Johannes Enders zitieren...

(Lacht) … ja, mach nur …

Er meinte: "Wenn Leute zehn Jahre zusammen spielen, hat das eine ganz andere Qualität, als wenn man mal kurz 2-3 Tage jamt und dann auf Tour geht."

Absolut! Er hat vollkommen recht. Deswegen gibt es ja meine Stammbesetzung. Ich bin ein extremer Gig-Analytiker und höre mir im Tourbus immer die Bänder des Vorabends an. Wir sind keine Band, die ein festes Repertoire hat, das sie jeden Abend runterspult. Wir sind immer am entwickeln, wir suchen immer wieder neue Formulierungen für dieselben Themen oder Strukturen. Wir wollen ja nicht jeden Abend genau die gleiche Geschichte erzählen.

Das leuchtet alles ein. Dennoch auffallend, dass auf jeder Tour ein großer Name dabei ist. Warum greifst du gerne auf amerikanische Jazzgiganten zurück?

Ich habe in Amerika studiert und das große Glück, auf diese Künstler zurück greifen zu können. Gerade ein Dewey Redman, Michael Brecker und Joe Lovano sind für mich die wichtigsten Musiker überhaupt. Das ist für mich musikalisch, wie auch für meine Karriere ein Riesenglück, dass sie so großen Gefallen an meiner Band finden und mit uns auf Tour gehen. Der angenehme Nebeneffekt dabei ist zudem, dass wir dadurch auf großen Festivals gebucht werden.

Sehnst du dich nach jubelnden Massen?

Die hab ich ja! Wir haben vor bis zu 1.500 Leuten gespielt, das sind schon tobende Massen. Außerdem hab ich früher, zu Elektrojazz- und Funkzeiten 10.000 Leute auf den großen Festivals gehabt. Da bist du auf einer großen Bühne, man wird nach jedem Solo, das gut ist, belohnt, bekommt einen emotionalen Backdrop. Das ist ja das Wichtige. Es geht ja nicht darum zu sagen: man bin ich toll. Es geht darum, dass man etwas auslöst in den Leuten, dass sie erregt sind und in Fahrt kommen. Darum geht es, auch wenn wir vor 100 oder 10 Leuten spielen. Kleine Bühnen und Clubs haben ein anderes Ambiente als Festivals. Das Intime in Clubs kann auch einen Vorteil haben. Und wenn 50 Leute begeistert sind, ist das genauso wertvoll wie bei 10.000. Das Profilierungszeug muss ich eh nicht mehr haben. Ich bin ja ganz früh in die Festivalszene reingewachsen und hab' schon als 19-Jähriger in Montreux Solokonzerte vor 8000 Leuten mit TV und allem Drum und Dran gespielt. Mit dem Intergalactic Maiden Ballet haben wir Miles Davis supported. In diesem Sinne sehne ich mich nicht mehr nach jubelnden Massen.

Das intergalaktische Jungfernballett

Du erwähnst das Intergalactic Maiden Ballet, deine musikalische Vergangenheit. Kürzlich habe ich Jojo Maier, deinen damaligen Drummer, mit Rebekka Bakken gesehen …

... der domestizierte Maier (lacht sich halb tot und fährt flüsternd, Rebekka Bakkens Stimme nachahmend, fort:) "Nicht so viel, hey, nicht so heavy…" (er klopft sich auf die Schenkel). Aber nicht schreiben, ja nicht, der tötet mich. Außerdem, jetzt mal im Ernst, machen sie absolut gute Musik!

Versprochen! Kein Wort werde ich erwähnen.

Ich mag ja mal wieder mit ihm spielen, wir planen vielleicht mal wieder etwas Neues.

Seit wann und warum gibt es das Intergalactic Maiden Ballet eigentlich nicht mehr?

Das war, von allem her, einfach mal genug. Wir haben über die zwölf Jahre unseres Bestehens über 700 Konzerte gespielt. Dort war auch, in Anknüpfung an unser erstes Thema, die immer gleiche Besetzung. Und das war irgendwann genug. Man hat sich nicht mehr so viel zu sagen. Man bekommt dann auch Krach, immer im selben Bus, in den engen Tourkabäuschen, und dazu die Tourroutine. Das war einfach genug und ist 1993 auseinandergegangen.

Denkt ihr über eine Reunion nach?

Das weiß man nie. Kann gut sein. Wenn, dann würde ich es auf jeden Fall mit Michael Brecker machen. Das wäre ganz spannend, den Jojo mal mit dem Brecker zusammen zu bringen. Obwohl derzeit nichts Konkretes in Planung ist.

Damals stand groovebetonter Funkjazz im Vordergrund. Inzwischen schwimmst du in weniger aufgewühlteren, in konservativeren Jazzgewässern.

Nein, nein, um Himmels willen (gespielte Empörung). Das ist viel freier, was ich jetzt mache. Frei im Sinne von: ich nehme mir die Freiheit von extrem groovigen Sachen herüber zu schwenken in ein freies Musizieren. Das kann durchaus mal fünf bis zehn Minuten ganz free werden, bevor es z.B. in eine boppige, swingige Nummer übergeht...

... aber die Tanzbarkeit hast du geopfert!

Bei drei, vier Stücken kann man noch tanzen, nicht mehr bei allen zwölfen. Ein Drittel ist noch tanzbar, ok. Ich sehe die Ausdrucksbreite eines Musikers nicht nur in einem danceable Kontext. Du kannst niemals alles sagen, wenn du immer diesen harten Groove hast. Du hast ja ein bisschen mehr zu bieten, als immer ganz hart zu phrasieren und immer möglichst funky zu sein. Das ist unnatürlich, wenn man sagt, man will nur diese eine Sache. Ok, es ist Naturellsache. Aber für mein Naturell ist es zu langweilig. Ich will auch mal ohne Time, völlig frei und nur melodisch irgendwo hindriften dürfen. Ohne Changes und ohne Formerfüllungszwang. Wie ich auch unbedingt einen ganz heißen Swing zelebrieren will. Im Endeffekt ist es mir zu eng, wenn man immer nur tanzbar sein will. Ich will mich ja mit allem, was ich habe, ausdrücken, und nicht nur mit einem kleinem Segment daraus.

Apropos Ausdruck. Du bist auf der Bühne ein energiegeladener Berserker mit einer auffallend ausladenden Körpersprache. Ist das Teil der Show?

(Empört) Nein nein.

… oder bist du so durchgeknallt?

Absolut, ich bin so durchgeknallt. Ich denke keine Sekunde daran, wie ich mich bewege. Es ist die Musik! Sie bringt mich dazu, mich so zu bewegen. Schau dir mal John Scofield oder Keith Jarrett an, die sind ja genauso durchgeknallt. Jarrett wird getrieben von der Musik, das ist ja auch keine Show, er braucht das. So brauche ich meine Verrenkungen, ohne dass ich die je wollte. Ich wäre ja froh, wenn ich nicht so schwitzen würde und nicht fünf mal das Hemd wechseln müsste. Es hat wirklich nur mit Musik zu tun.

"Jede Musik, über die man erst groß nachdenken muss, ist akademischer Müll!"

OK, ich habs kapiert. Du bist ein anregender Gesprächspartner, deshalb hast du sicher nichts dagegen, wenn ich dir ein paar Zitate hinwerfe. Pierre Boulez hat einmal gesagt "Der Jazz hat das Problem, dass er hauptsächlich improvisierte Musik ist".

Na ja, klassisch denkende Menschen meinen manchmal, man müsse ganz viele Überlegungen anstellen, um auf etwas Schlaues und Wertvolles zu stoßen. Jazzmusiker glauben das Gegenteil! Sie glauben, wenn du genügend Vorarbeit leistest, nämlich sehr viel übst, du fähig bist, genauso wertvolle Musik im und aus dem Moment zu kreieren. Du hast diesen Moment ja ganz stark vorbereitet, und im Konzert hast du dann das inspirierende Moment, dass sehr interessante Sachen um dich herum passieren. Deine Band bringt die Impulse, auf die du reagierst, und dann entsteht, nach Jazzmusikerglaubem, ebenbürdigst Musik. Wenn man das ausspielen will wie Monsieur Boulez, dann ist man ein ganz großer Fachidiot und ein engstirniger, dummer Mensch. Also, hochintelligent, aber strohblöd im Approach zum Leben. Weil, er hat ganz viele Momente, außermusikalische Momente, in denen er auch Jazz macht. Er müsste sich halt mal überlegen, wo das passiert? Ich würde ihm sagen: "Herr Boulez, haben sie schon einmal mit ihrer Frau etwas ganz Spontanes, wahnsinnig Interessantes und Unglaubliches erlebt. Das ist ja auch Jazz, denn sie haben sich nicht zehn Stunden darauf vorbereitet, sie haben es einfach passieren lassen. Finden sie das wirklich wertlos?" Und dann kann er vergleichen. Ist Jazz wertloser oder wertvoller als Auftragskompositionen? Für mich ist alles gleich wertvoll. Spontan oder vorbereitet. Nur gut muss es sein.

Das hat schon Duke Ellington gewusst. "Es gibt nur zwei Arten von Musik: Gute und Schlechte".

Das hat Boulez leider verkannt. Er sollte bei Ellington in den Unterricht "Lebensschulung" gehen (lacht).

Jetzt bin ich gespannt, was du zu John Cage sagst: "Ich mag keinen Jazz, weil er mich an Leute erinnert, die in einem Kreis sitzen und reden".

Mmmh, dazu fällt mir gar nichts ein, das ist unter Niveau, dumm, strohdumm. Das heißt ja auch gar nichts. Im Kreis sitzen und reden, hä, was soll das, wer hat denn da was dagegen? Oder war John Cage ein Schweigemönch in einem Kloster, in dem im Kreis sitzen verboten war?

Steve Reich hat mal gesagt "Jede Musik, über die man erst groß nachdenken muss, ist akademischer Müll".

Ja, das stimmt natürlich schlussendlich. Aber ich sehe mich nicht in der akademischen Ecke. Jazz war früher ja auch extrem populär (Anm. d. Red.: In den 30er Jahren hat Jazz 70% zum Gesamtumsatz der Musikindustrie beigetragen). Da hat sich niemand etwas überlegt. Aktuelles Beispiel: Truffaz. 60.000 Leute kaufen regelmäßig seine Platten. Da sind wahrscheinlich 40.000 dabei, die keine Ahnung haben, aber das total heiß finden, was er macht. Auch unsere Hörer sind nicht zerebral und intellektuell so abgehoben, dass sie kein Bein mehr auf den Boden kriegen. Wenn man zu viel denken muss und es nicht einfach gefällt, dann ist es nix. Es gibt schon einige, bei denen man sehr viel denken muss. Cage und Boulez zum Beispiel (lacht). Steve Reich arbeitet ja viel mit Repetition. Aber wenn er sich jetzt über den Jazz stellt, dann wäre es schade. Aber ich glaube nicht, dass er das macht. Ich habe, wenn wir schon beim Zitieren sind, noch einen Spruch für dich. Branford Marsalis hat erst vor kurzem gesagt, es gebe keine europäische Jazzform, die wichtig wäre: "European Jazz ist per Definition nicht möglich."

Wow! Branford Marsalis hat das behauptet? So eine Arroganz und Ignoranz vermutet man eher von seinem Bruder Wynton. Meines Erachtens wird der Jazz im Moment in Europa weiter entwickelt. Vor allem in Skandinavien.

Eben. Aber nein, Branford findet dieses Black Thing das einzig wahre. Das ist schade und leider typisch amerikanisch. Aber in der Weltwirtschaft legen sie ja die gleiche Arroganz an den Tag. Sie treiben die Welt in den Abgrund, davon bin ich leider überzeugt. Ein paar Jährchen noch, dann platzt da drüben eine Finanzblase, die dann böse Folgen haben wird, auch hier. Die machen alles falsch. Da sind ja ganz schlimme Supergaus vorprogrammiert. Das basiert auf deren Arroganz. Sie haben das Gefühl, sie können die Japaner, die Chinesen und die Europäer am Gängelband rumführen. Die sind so was von selbstbewusst und größenwahnsinnig, aber irgendwann wird das platzen und dann gibt es Chaos, leider auch für alle anderen. Und irgendwie hat es Parallelen, die Musik und die Wirtschaft. Das Bewusstsein des typischen Amis ist sehr arrogant, und das ist sehr schade.

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