laut.de-Kritik

Geschliffene Zeilen über ein brüchiges Seelenleben.

Review von

"Acht Jahre in der Versenkung verschwunden. Mit dem Beelzebub gekämpft, mit Engeln getrunken. Erst von Haupt bis Fuß ausgeräuchert von höllischen Funken und dann jenseits von Zeit und Raum die Fülle gefunden." Sein letztes Album "Täter-Opfer-Ausgleich" überstrahlt noch immer ganze Deutschrap-Jahrgänge. Volle vier Jahre nach dem ursprünglich anvisierten Veröffentlichungstermin erscheint nun der Nachfolger "Die Unerträgliche Dreistigkeit Des Seins". JAW wagt sich mit einem weiteren Seelenstriptease an die Öffentlichkeit.

In "Survival Of The Fittest" kehrt er noch einmal Dokta Jotta hervor, der das Citalopram en gros an den Mann bringt. Dabei will er sich selbst eigentlich nur aus der Abhängigkeit befreien: "Und ich schmeiß' die letzten Reste der Pillenbox dem Klo in den Rachen. Seh', wie die stabilste meiner Krücken im Wasser versinkt. Es scheint, als versuchten sie entgegen des Sogs zu paddeln, um zurück in mein Leben in der Umnachtung zu springen." Doch das kurzzeitige emotionale Hoch des "Entzugsoptimismus" weicht der nach wie vor bitteren Erkenntnis: "Ich kann nicht ohne sie sein."

Durch seine glanzlose Oberfläche gibt JAW direkte Einblicke in sein brüchiges Seelenleben, das, abgesehen vielleicht von intellektueller Eitelkeit, wenig Platz für Selbstachtung lässt. Er erweist sich als regelrechter Anti-Star, frei von Gepose und Gepränge. Wenn das gebeutelte Selbstwertgefühl mit der ihm entgegengebrachten Anerkennung kollidiert, verschärft sich seine emotionale Insuffizienz: "Die Kilos schwinden und mein Körper baut ab. Ich addiere mit Mühe und Not die Wörter zum Satz, denn mein Leben, für das die Szene mir mit Jubeln begegnet, ist in der Nüchternheit des Alltags mehr Fluch als Segen."

JAW vermeidet es, als "Held aus Wachs" zu enden. In einer gekünstelten Szene aus Yuppies und Fitnessfanatikern bleibt der Freiburger ein "Fremdkörper". Anstatt sich in Selbstkritik zu üben, ergehen sich die Kollegen lieber im "Tantentratsch". Das sinnentkernte Treiben wird dann noch von der Journaille befördert: "Mags, die mehr interessiert, ob Rapper AMG fahr'n als ob Metaphern in den Wortfeldern Porträts malen." JAW bleibt "Inmitten Des Sturms" standhaft: "Verkaufe lieber ein Zehntel CDs, statt zu verraten, wofür mein Name seit 'Seelensturm' steht."

Diese Ausflüge in die Szene-Kritik bilden die einzigen vergleichsweise seichten Themen, denen er mit angriffslustigem Witz begegnet, durch den seine Wurzeln im Battle-Rap durchscheinen. Den Galgenhumor vergangener Tage hat JAW deutlich zurückgedrängt. Immerhin hat sich auch seine persönliche Welt nach Erfahrungen und Schicksalsschlägen seit "Täter-Opfer-Ausgleich" merklich weitergedreht, wodurch die Ernsthaftigkeit noch mehr Raum einfordert.

Jede Menge Gefühl legt der Rapper etwa in das Liebeslied "Bis Zum Letzten Tag", im dem er die Höhen und Tiefen einer Beziehung skizziert: "Hast mit deinem Lachen meine Welt erhellt und mich zu mir geführt. Von meinem verstellten Selbst mit deiner Zärtlichkeit all den Schmerz zerstreut." Das Stärke verleihende Gefühl des Aufbruchs bleibt allerdings wie so oft nicht von langer Dauer. Der Tod seiner Mutter reißt ihn erneut zu Boden und bringt das junge Glück in Schieflage: "Wir beide fast an uns selbst zerbrochen." Doch das Paar fängt sich und beschert der Geschichte ein vorläufiges Happy-End.

Wie bereits erwähnt, war ein solches seiner Mutter nicht beschieden. Ihr widmet JAW das elegische, mit Akustikinstrumenten unterlegte "Bye Mama". Geradezu herzzerreißend schildert er die Auflösungserscheinungen am Krankenbett: "Ich konnte nichts tun, außer zuzusehen wie alles, was du gewesen bist, übers Ufer geht." "Wenn sich die Sonne am Abend senkt", weiß er zwar, dass er es seiner Mutter "nicht leicht gemacht hat", doch ein letztes Versprechen gibt er ihr mit auf den Weg: "Dein Sohn wird kein schlechter Mensch."

Persönlichere, ja intimere Einblicke können Songtexte nicht bieten. Jede Zeile sitzt geschliffen am richtigen Platz. Gleichzeitig bietet JAW echte Gefühle statt der in dieser Schlager-Gesellschaft so beliebten Gefühligkeit. Auch die frei von jeder Künstlichkeit bestechenden Produktionen steuern ihren Teil dazu bei. Die wenigen synthetischen Facetten wie in "Survival Of The Fittest" korrespondieren mit der Psychopharmaka-Thematik. Abgesehen davon dominieren dezente Piano- und Streicher-Elemente, die gelegentlich sogar Chöre und Kirchenglocken ergänzen ("Bis Zum Letzten Tag").

Zum Abschluss unterstreicht JAW auf "14" seine Bereitschaft, die Rolle der Identifikationsfigur für alle von der Welt Überforderten anzunehmen: "Wenn du Halt suchst, ist das mein Geschenk an dich. Hüte es wie einen Schatz, aber verbrenn' dich nicht." Fraglos zahlt sich der pflegsame Umgang mit "Die Unerträgliche Dreistigkeit Des Seins" für den Hörer aus: "Und was ich dir hier geben kann, begleitet dich ein Leben lang. Vielleicht befreit es deinen Geist aus einem Schemenzwang." Mehr kann ein Album nun wirklich nicht bieten.

Trackliste

  1. 1. 01
  2. 2. Exit
  3. 3. Masken (mit Maeckes)
  4. 4. Niemandsland
  5. 5. Bis Zum Letzten Tag
  6. 6. Inmitten Des Sturms
  7. 7. Survival Of The Fittest
  8. 8. Entzugsoptimismus
  9. 9. Weltenpendler
  10. 10. Lost In Space
  11. 11. Fremdkörper (mit Peter Maffya)
  12. 12. Bye Mama
  13. 13. Nichts
  14. 14. 14

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16 Kommentare mit 22 Antworten

  • Vor 5 Jahren

    puh, das album hat zwar ein paar textliche monster, weiß aber nicht ob ich mit 5/5 daccord gehen würde. Tu mich ein bisschen schwer mit der Produktion, find viele Samples und Sounds irgendwie zu cheesy und schwerfällig, diese slicke und subtile Atmosphäre von seinen killern wie TOA2 kommt nur beizeiten zustande. Er hat viel zu erzählen und beizeiten einen der krassesten, prosaischsten Schreibstile, die man im Deutschrap hören wird, gerade wenns darum geht, Szenen zu beschreiben und das Gefühl einer Bewegung zu vermitteln. Kann mir aber trotzdem nicht helfen, es kommt mir musikalisch wie eines seiner hölzerneren Alben vor. Würde so etwa auf 3/5 tendieren.

  • Vor 5 Jahren

    Ich weiß nicht, kann die Wertung Null nachvollziehen. Ich habe JAW nie als reinen Depri-Rapper gesehen. Genügend Einblicke in sein Seelenleben hat er auch in der Vergangenheit fast ununterbrochen serviert, aber oft mit einer Prise Humor (z. B. "Geheilt", "Weiße Weste", "Arztbesuch" usw.). Man hat immer verstanden, wie der Interpret insgesamt tickt, aber die ganze Verachtung, die er der Menschheit und unserer Gesellschaft entgegen bringt, kam immer gefühlt mit einem Augenzwinkern. Die beiden TOA-Teile auf der letzten Platte habe ich eher als krasse Ausreißer denn als wirklich stellvertretend für sein Gesamtwerk gesehen.

    Das neue zündet bei mir leider überhaupt nicht, viel zu ernste Atmosphäre, viel schlechter gerappt (OK, ein Reimvirtuose war Jotta noch nie, aber der Part auf dem Track mit Maeckes bspw. klingt wie unmotiviert vom Blatt abgelesen, da ist kein Rhythmus geschweige denn Flow dahinter) und immer dann, wenn sein Genie kurzzeitig aufblitzt ("Niemandsland", "Fremdkörper"), wird mir das Vergnügen von einer unhörbaren Autotune-angehauchten Hook zerstört.

    Wenn ich Musikkritiker wäre, könnte ich mich zu 3/5 durchringen, denn ein wirklich übles Album ist das ja nicht, aber als enttäuschter Fanboy habe ich gerade überhaupt keinen Bedarf, mir das Ding noch weitere Male zu geben, daher nur 2/5.

  • Vor 5 Jahren

    Ok, eine Frage an jeden, der sich damit auskennt oder meint sich auszukennen: die auf dem Album mehrfach eingesetzten Stimmenverzerreffekte, ist das wirklich Autotune? Es klingt für mich viel metallischery blechener, ich hätte gedacht, dass es sich dabei um einen Vocoder handelt.

    Wertung geht denke ich klar, wobei ich diesen yanniks Einwand durchaus nachvollziehen kann, irgendwie. Man sollte dem Sound aber zugute halten, dass hier nicht auf den Hypetrain aufgesprungen wird und das ganze trotzdem neu und frisch klingt.

    Wer mit der Erwartungshaltung ran geht, alter Jotta, kranke Vergleiche, Misanthropie mit Augenzwinkern, der wird enttäuscht.

  • Vor 5 Jahren

    Ich bin leider ganz bei Inno. Es hapert halt leider nicht nur an den Beats.
    Die Lyrics gleiten immer wieder ins prätentiös Kitschige ab. Teilweise erinnert das an den Prinz Pi von Kompass ohne Norden. Der wütende Trotz der sich früher in Galgenhumor ausgedrückt hat ist jetzt eher unangenehm pathetisch. Mir fehlen auch Dinger wie Konzeptlos und Dr. Jotta.

  • Vor 5 Jahren

    Ich bin leider ganz bei Inno. Es hapert halt leider nicht nur an den Beats.
    Die Lyrics gleiten immer wieder ins prätentiös Kitschige ab. Teilweise erinnert das an den Prinz Pi von Kompass ohne Norden. Der wütende Trotz der sich früher in Galgenhumor ausgedrückt hat ist jetzt eher unangenehm pathetisch. Mir fehlen auch Dinger wie Konzeptlos und Dr. Jotta.

  • Vor 5 Jahren

    Das Album ist eine ziemliche Enttäuschung, aber so ist das, wenn man 8 Jahre später versucht nach seinem alten Ich zu klingen, aber gleichzeitig die technischen Spielereien der Gegenwart wie Autotune einfliessen lassen möchte. Für mich klingt das alles einfach extrem kitschig, unmotiviert und leicht hingerotzt. Würde damit als Fan eher ungern mit assoziiert werden. Nette 2/5.