laut.de-Kritik

Electro-Schlager für Freigeister und Abgehängte.

Review von

Rennt weg! Flüchtet! Bringt eure Lieben in Sicherheit! So ruft uns Jens Friebe im Opener seines neuen Albums "Wir Sind Schön" eindringlich entgegen. Doch vor wem sollen wir denn wegrennen? Einer ganz perfiden Gruppe der "Microdoser". Sie "kommen in deine Stadt / Microdoser machen alles halb platt". Damit ist die größte und wichtigste Konfliktlinie auf "Wir Sind Schön" direkt mal gezogen. Hier, da sind Jens Friebe und Konsortium, Freigeister und Abgehängte, Menschen, die auf die eine oder andere Art durch das Raster der bundesrepublikanischen Idealgesellschaft gefallen sind. Auf der anderen Seite, da sind die "Microdoser", die Lemminge des Neoliberalismus, die zwanghaften Selbstmaximierer, die Start-Up-Fuzzis und "Nach-Berlin-Zugezogenen".

Welche schönere Konfliktlinie kann ein Avantgarde- / Electro- / Kammerpop-Album denn haben? Friebe verordnet seine Agitation geschickt zwischen dem Privaten und dem Politischen, so wie bei der langsamen Quasi-Klavierballade "Die Schrumpfende Stadt". Tastend und schmerzerfüllt erzählt er von einer Jugendfreundschaft, die an Klassenunterschieden und dem daraus entstandenen persönlichen Verrat zerbricht. "Weißt du noch, wie wir damals in dieselbe Klasse kamen / Wir wussten noch gar nicht, was Klassen waren" Vor allem die letzte Strophe strotz vor Traurigkeit. "Ich glaub das letzte Mal / als wir uns sahen nach deinem Abgang / war am Riesenrad / du standest da mit deiner neuen Gang / von der mich irgendwer schon mal verprügelt hat." Indem Friebe zwischen dieses todtraurige Ende einer Jugendfreundschaft und die schwelgerische Erzählung von ebenjener Jugendfreundschaft keine Erklärung stellt, keine Geschichte des langsamen Auseinanderlebens, illustriert er geschickt, woran die Jugendfreundschaft gescheitert ist: An den Klassen.

Mit dem "Nichtmehrkönnen" fängt Friebe das diffuse Lebensgefühl der Gesellschaft ein. Träge, behäbig rumpelt sich das Klavier nach vorne, während Friebe das Leid einer Gesellschaft besingt, die seit zwei Jahren nur noch den Ausnahmezustand kennt, in der jede Bewegung plötzlich die eine Bewegung zu viel sein könnte: "Ich reiße mich zusammen / ich gehe aus dem Haus", klagt er sofort. "Ich rolle einen Stein / wir beide sind allein / wenn wir zusammen wären / könnte es einfacher sein" reimt er sich in seinem Trott zusammen, in der Hoffnung nach mehr menschlicher Nähe.

Am großartigsten ist "Wir Sind Schön", wie jedes Friebe-Werk, wenn der Wahl-Berliner seinen Melodien freien Lauf gewährt, den Pathos vollständig umarmt und sich dem Pop hingibt. "Sing It To The Converted" ist wunderbar dunkler, schimmernder Agit-P(r)op. Eine Hymne des Wider- und Aufstandes, abstrakt genug, um die peinliche Bierzelt-Agitation von Feine Sahne Fischfilet oder ähnlich (un-)charmant-plumpen Politpunkern zu umschiffen. Aber doch konkret genug, um Zeilen wie "Weltrevolution und Antidiskriminierung / sollte man nicht gegeneinander / ausspionieren" strahlen zu lassen.

Auch "Am Ende Aller Feiern" verfügt über diese erstaunliche emotionale Klarheit, wenn Friebe zu rumpelnder Electronica von der Einsamkeit auf Hochzeiten von Ex-Partner*innen singt. Doch aus der Eifersucht auf den/die neue Partner*in macht er ein bewegendes, von kurzen Klavier-Etüden getragenes, Stück über menschliche Einsam- und Zusammengehörigkeit: "Wir waren ein eigener Stamm / und opferten ohne zu schlachten" ergibt auf emotionaler Ebene sofort Sinn. So wie ganz vieles, was Jens Friebe auf diesem trotzigen, strahlenden, unsicheren Album sagt.

Mit "Nicht Nach Haus" findet es seinen würdigen Abschluss. Zu behäbigen Bossa Nova-Anleihen fleht Friebe: "Ich kauf dir die Art / of the working class", er will überall hin mitgehen, nur nicht nach Hause. Melancholisch, langsam singt er vom Ende der Party, der Angst davor, wieder ins Licht zu müssen, dahin, wo Hedonismus wieder auf Kosten der Schwachen ausgelebt wird und die "Microdoser" rumtingeln.

Trackliste

  1. 1. Microdoser
  2. 2. Wir Sind Schön
  3. 3. Am Ende Aller Feiern
  4. 4. Die Schrumpfende Stadt
  5. 5. First We Take Manhattan
  6. 6. Der Wahn
  7. 7. Was Haben Wir Getan
  8. 8. Das Nichtmehrkönnen
  9. 9. Sing It To The Converted
  10. 10. Frei
  11. 11. Nicht Nach Haus

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