laut.de-Kritik

Vom Schwanken und von dem, was man Heimat nennt.

Review von

Mitte bis Ende der 80er entwickelte das Kassetten-Label Fast Weltweit in der westfälischen Provinz Bad Salzuflen parallel zum experimentellen Kunst- und Industrial-Betrieb in Berlin eine deutschsprachige Indie-Pop-Szene. Inmitten der ländlichen Ödnis ebneten Jetzt! der Hamburger Schule den Weg. Mit ihren melodischen und poetischen Gitarren-Klängen gehen sie als deutsche Antwort auf den Agitprop-Pop von The Style Council und die Sentimentalität von Orange Juice durch. Sie blieben trotzdem weitestgehend unbeachtet, weil Sänger und Texter Michael Girke jahrzehntelang nicht wollte, dass etwas von der Musik veröffentlicht wird.

Das änderte sich, nachdem zuvor schon einige Tracks der Band im Netz kursierten, vor zwei Jahren mit der Compilation "Liebe In Grossen Städten 1984-1988". Die brachte ihr letztlich die verdiente Anerkennung. Davon beflügelt, beschloss Girke, der Jetzt! inzwischen als Solo-Projekt betreibt, sich noch einmal ins Studio zu begeben und mit "Wie Es War" sein erstes reguläres Album aufzunehmen. Das kreist wesentlich um seine Heimatstadt, um sein "krummes, schiefes" Herford.

Im Titelstück blickt er auf seine Kindheit und Jugend dort zurück. Er singt mit einer Empfindsamkeit, die man nur noch von dem mit der Geschichte von Jetzt! eng verbundenen Jochen Distelmeyer kennt, zu reduzierten akustischen Arrangements, die Thomas Wenzel, Bassist bei den Sternen und den Goldenen Zitronen, auszeichnen, vom trüben Blick seines Vaters, vom ersten Herzschmerz, von seiner Liebe zur Musik und seiner Sehnsucht, aus zu eng gewordenen Verhältnissen ausbrechen zu wollen. Und dann diese himmlischen Streicher, die einer Hildegard Knef ziemlich gut zu Gesicht gestanden hätten. Einen umwerfenderen Song gab es aus Girkes Feder bisher noch nicht.

Ansonsten versucht er gar nicht erst, von einem hymnischen Gipfel zum nächsten zu stürmen. Vielmehr möchte er mit einfachen musikalischen und lyrischen Mitteln den "Dingen auf den Grund" gehen, wie er im Anschluss in "Traurigkeit" verdeutlicht, das eine zerbrochene Freundschaft, den "Riss in der Welt", zum Thema hat. "Alles ist ein Schwanken, kommt anders als man denkt", heißt es später in "Was Man Heimat Nennt". Nur stellt Girke dann fest, "dass es ums Ankommen geht". Die Einsicht hat er bekommen, als er "unterwegs" war.

Vor rund 33 Jahren brach er nämlich nach Berlin auf, da er die Enge der Provinz als Belastung empfand, doch weder mit Jetzt! noch als Singer/Songwriter fasste er dort Fuß. Dass damals allerdings noch "andere Wege" zur Selbstverwirklichung existierten, davon handelt zum Teil "Die Zeit". Jedenfalls schlug Girke 1988 an der Spree eine Karriere als Journalist ein. Mittlerweile hat er sich gänzlich vom Großstadttrubel zurückgezogen. In Herford hat er nun wieder ein Stück weit das gefunden, "was man Heimat nennt".

Außerdem hilft es ja, wenn man sich der Vergangenheit vergewissert, um sie besser zu verstehen. So setzt er sich in "Der Mann, Den Ich Nicht Fassen Kann" mit seinem Vater auseinander, der im Zweiten Weltkrieg als Kind von Breslau nach Westdeutschland floh, um Hitler zu entkommen. Der konnte danach nie wieder so richtig Nähe zulassen und regierte seine Familie "mit erhobener Hand". Verzeihen kann der Herforder ihm heute noch nicht. Trost findet er dennoch, indem er das Geschehene immer wieder erzählt.

Und dann gibt es ja noch die Liebe. Für Girke besitzt sie die Kraft, "all das Düstere", das in ihm "kriecht", zu besiegen. Das lässt er seine Hörer in "Eins Und Eins Ist Unendlich Viel" wissen, egal wie oft er auf diesem Album auch ihre Tiefen besingt.

Dass die von der Akustischen getragenen Songs, oftmals um zurückgenommene Schlagzeug-, Bass- und Percussion-, rhythmische Banjo- und perlende Piano-Klänge ergänzt, überwiegend in Dur daherkommen, überrascht daher nicht. Selbst wenn das Leben einmal nicht so verlaufen sollte, wie man es sich erhofft hatte, braucht man noch lange nicht die Zuversicht zu verlieren:

"Wir sind Wolken, sind Momente." Das Glück, auch wenn es nicht ewig anhält, sollte man jedenfalls nicht morgen, sondern sofort ergreifen. Auch das erzählt Girke. Er befindet sich mit "Wie Es War" ohnehin gerade in seinem zweiten Jetzt!-Frühling.

Trackliste

  1. 1. So Sieht Es Aus, Wenn Das Herz Bricht
  2. 2. Die Zeit
  3. 3. Eins Und Eins Ist Unendlich Viel
  4. 4. Der Mann, Den Ich Nicht Fassen Kann
  5. 5. Wie Es War
  6. 6. Traurigkeit
  7. 7. Die Welt Wird Größer, Wenn Wir Sie Teilen
  8. 8. Red' Mit Mir
  9. 9. Wir Sind Wolken, Sind Momente
  10. 10. Was Man Heimat Nennt
  11. 11. Wer Jetzt Kein Wort Findet
  12. 12. Liebeslied

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