laut.de-Kritik
Da sind sie wieder, die vertrauten Gefühlsausbrüche.
Review von Jasmin LützEndlich, Jochen is back! Kurz vor der Pandemie gab es 2019 eine Art Mixtape mit seinen Lieblingsstücken. Zuletzt gesungen hat er 2016 (!) seine Favorit-Cover-Hits Songs From The Bottom, Vol. 1. Aber jetzt kehrt er nach "Heavy" mit seinem zweiten Soloalbum "Gefühlte Wahrheiten" zurück. Es geht um Menschen, Natur, Leben, Liebe und andere Katastrophen.
Seine Texte und Kompositionen sind manchmal etwas eigenwillig, funktionieren aber gleich mit der ersten Single "Ich Sing Für Dich". Mit Akustikgitarre, glanzvoller Coolness, reduziertem Arrangement und seiner "Voice of Harmony" spricht er den Hörer direkt an: Hey, du bist nicht allein in dieser Krise: "Ich sing für dich, wenn du nicht weißt, wo deine Leute sind (...) Du nicht weißt, wo deine Liebe wohnt." Poesie schreitet durch die Straßen der leeren Stadt. Da sind sie wieder die vertrauten und lebendigen Gefühlsausbrüche. Trompetenbläser marschieren im ruhigen Rhythmus. Er ist wieder da mit seinen Lebenshymnen, die nicht besser in diese Zeitenwende passen könnten.
Beim Opener "Komm (So Nah Wie Du Kannst)" gibt es einen dieser Schock-Momente. Jochen ist immer für Überraschungen zu haben, aber muss das gleich so eine Freundeskreis-Klüngel-Nummer werden? Will er jetzt in den Club der "Sing Meinen Song"-Tauschkonzertgesellschaft? Bitte nicht! Und dann setzt auch schon der Background-Gesang ein. Das ist dann doch zu viel Max Herre und Joy Denalane-1999er-Nostalgie. Das hat bei Tocotronic schon für "Kapitulation" und gruselige Irritation gesorgt. Am Ende rasten Schlagzeug und Gitarre auch noch mal richtig fetzig aus. Hm, da muss man wohl das nächste Video abwarten. Vielleicht passt das dann wieder besser in Distelmeyers R'n'B-Konzept.
"Zurück Zu Mir", die zweite Singleauskopplung klingt da schon wieder sehr viel vertrauter. Jochens unantastbare Stimme, die eingängige Melodie, Worte, denen man immer wieder gerne zuhört. "Die alten Wunden tun noch weh", aber der Background-Chor schmerzt hier gar nicht mehr, vor allem wenn man das zugehörige Video anschaut. Diese überzeugende Darstellung zwischen Kitsch und großer Geste. Ganz in Weiß, ohne Blumenstrauß, aber mit Gitarre steht und sitzt er da lässig am Pier. Dann bekommt er Gesellschaft von zwei strahlenden Revue-Damen und hey, wie gut jetzt dieser Gesang dazu passt. Das ist Bios Bahnhof-TV in Höchstform. Ein glanzvoller Traumschiff-Auftritt mit Happy End - glamourös, strahlend und gesanglich immer auf Harmonie aus, denn: "Alle Wissen ohne Liebe ist kein Leben".
Diese leidenschaftliche, immer etwas übertriebene Bühnenpräsenz funktioniert gut bei Jochen Distelmeyer. Er ist der geborene Popstar, zwischen Ironie und Melancholie. Verzweifelnd, aber nie hoffnungslos. Natürlich ist der Background-Chor nichts Neues. Wir erinnern uns an "Anders Als Glücklich" auf Blumfelds Testament der Angst, mit den ehemaligen Lassie Singers Almut Klotz und Christiane Rösinger. Da war der Gesang noch etwas schräger unterwegs und hui, das ist auch schon über 20 Jahre her!
Mit "Hey Dear" nimmt die romantische Reise volle Fahrt auf: "Denn ich spüre das Verlangen und es lässt mich nicht los. Mein Herz steht in Flammen und der Sog ist zu groß." Hat da etwa jemand die neue große Liebe entdeckt?
"Im Fieber" gehört zu seinen Pop-Höhepunkten auf dieser neuen Platte. Hier erinnert er an die immer noch großartige Blumfeld-Melancholie von Jenseits von Jedem. Harmonien lösen sich auf und passen sich gleich wieder an. Im "Im Fieber"-Video steht er glänzend da, vorbildlich mit Frauenband (Katja Seiffert, Liza Schmidt, Antonia Lutopia und Anna Brovdii) an seiner Seite. Wir sind hier schließlich nicht bei Cock am Ring. Eher ein Style Council Flashback? Auf jeden Fall jede Menge 1980s Style und güldene Sonnenstunden unter der Diskokugel. Beschwingte Melodie und die Wirrungen liegen in der Luft: "Sag, was ist oder lass mich gehen. Weiß nicht, was wird, wenn wir uns wiedersehen. Fühl den Rausch und lieb dich, wie im Fieber." Das Video endet mit zwei süßen Katzenbabys. Letztendlich ist es die Sehnsucht nach Frieden und Geborgenheit. Wie sang Bryan Ferry einst: Don't Stop The Dance! Funky und "so beautiful"!
Zwischen La Boum – Die Fete und 1990ern Dramödien reist Jochen mit seinen Liebesschwüren durch die Vergangenheit ("Nur Der Mond"). "Brauch dich jetzt hier Haut an Haut." Man fühlt sich schon wieder angesprochen und zückt auch gleich das Taschentuch: "Fühlt sich an, wie Fügung, dass wir uns begegnet sind." Einmal noch mal diese Liebe spüren. Jochen lässt nichts aus. Ein kreischendes Gitarrensoli rauscht zum Ende hin.
"Manchmal" gibt einen tiefen Einblick in das Seelenleben des Jochen Distelmeyer. Die Sehnsucht nach Geborgenheit. Es gab viel Schmerz und Leid. "Und ich lass nicht los. Ich lieb dich bedingungslos. Ich schütte dir mein Herz aus auf gewelltem Papier. Damit du mir glaubst und weißt, ich bin immer bei dir." Äh, wenn man solche Worte von einem Ex bekommt, dann will man doch sofort zurück? Oder man findet Trost in der Stadt, in die man flüchtet, so wie Jochen in Berlin.
Jochen macht einen fertig. Auch was Längen angeht, aber wer kann ihm nicht stundenlang zuhören? Kurzfassung kann schließlich jeder. "Nicht Einsam Genug" braucht gerade mal 11:33 Minuten und keinerlei Reduktion. Er erzählt halt gerne Geschichten und nur "Jenseits Von Jedem" toppt die bildgewaltige Prosa mit fast einer Viertelstunde.
Dass seine Stimme auch die englische Sprache vorzüglich tragen kann, beweist er mit "Gone Girl" und "Roads Of Regret". Diese Lieder brauchen keinen ausschweifenden Background. Stimme und Melodie tragen den ganzen Song.
"Gefühlte Wahrheiten" braucht vielleicht etwas mehr Zeit, aber die sollte man sich nehmen. Auf zwei, drei kleine Ausflüge in eine etwas gewöhnungsbedürftige Distelmeyer-Dimension kann man sich schon mal einlassen. Es bleibt dabei, niemand singt und schreibt so schön über die Liebe und alles was damit verbunden ist. Immer wieder Liebeslieder und Lebenshymnen. Für immer Jochen!
6 Kommentare mit 5 Antworten
Ich muss zugeben, als ich so 14, 15 Jahre alt war und ich zum ersten Mal "Graue Wolken" von Blumfeld hörte, da hat er mich voll erwischt, der Jochen. Aber auf Albumlänge, ist es mir dann eher nichts. Das ging mir vor 20 Jahren mit "Testament der Angst" so.
Ich werde mal ein Ohr riskieren, vielleicht gibt es ein "Graue Wolken" 2.0?
Der Typ ist bestimmt nicht der Dümmste unter der Sonne und seine Meriten wird er sich außerdem schon verdient haben. Die Hörproben, die ich diese Woche im Radio hiervon auf die Ohren bekommen durfte, waren aber wirklich komplett zum Davonlaufen. Und ich habe im Gegensatz zu manch anderem User nun wirklich keine grundsätzlichen Berührungsängste mit deutschsprachiger Gefühlsmusik.
Bei mir genau umgekehrt. Ich habe grundsätzlich Berührungsängste mit deutschsprachiger Gefühlsmusik, aber den Jochen mag ich.
Ungehörnt 3/5
Darauf erst mal pur auf ex ne Flasche Distelöl.
Aber gerupft und gesiebt. Piekt sonst so in der Röhre.
Wie Jochen sich auf das Schönste an der deutschen Sprache abarbeitet, unvergleichlich!
Gutes Album. Ohne die englischen Titel wäre es noch besser.
Dann wäre das Albung ja völlig leer...
Ich kann die Blumfeld Meriten nicht einschätzen (hab dreimal in L'etat reingehört, bin aber nie reingekommen), aber die neue Scheibe ist doch übelster Käse.
Hab die vier ersten Songs durchgehalten und von der Instrumentierung, über die Texte (die Reime lol) bis zum Gesang ist das absolut cheesy Standard-Deutschpop.
Ich möchte nicht ausschließen, dass mir das Raffinement daran entgangen ist, aber wenn der nicht Jochen Distelmeyer heißen würde, würde ich den deutlich näher bei Revolverheld als an den respektablen Indiepop Institutionen meines Vertrauens (Frevert, Dota Kehr, Eisenbahn) einordnen.
Frevert ist ein guter Mann.