laut.de-Kritik
Die halbgare Skizze eines Meisterwerks.
Review von Yannik GölzEigentlich müsste langsam der Punkt kommen, an dem die Nennung von Joji ohne Verweis auf seine Vergangenheit auskommt. Aber trotz der spektakulären Leadsingle "Glimpse Of Us" ringt sein neues Album "Smithereens" damit, ein wirklich interessantes Statement zu machen. Die vielschichtigen und musikalisch manchmal spannenden Skizzen scheinen doch immer noch irgendwo an den inhärenten Kontrast zu glauben, der sagt: "Guckt mal, da ist der, der mal der Schamhaarkuchen-backende Filthy Frank war, und singt jetzt schöne Indie-R'n'B-Balladen!". Denn auch, wenn "Smithereens" ein paar musikalisch atmosphärische Stellen zu bieten hat, läuft Joji hier erstmals das Risiko, dass er ohne seine Backstory einfach nur ein weiterer Sad Boy ist.
Dabei haben wir doch eine "Glimpse" davon, was sein könnte (haha): Die Lead-Single "Glimpse Of Us" landete als Top Ten-Hit nicht nur Jojis größten kommerziellen Erfolg, sondern zeigte ihn auch künstlerisch so zeitlos wie selten zuvor. Die minimale Piano-Ballade kommt mit einer einschlägigen, tödlich depressiven Melodie, auf der seine Harmonien und sein ewig einprägsamer Refrain kilometertief Stimmung machen. Die Distanz zwischen Süße und Schmerz, zwischen Hoffnung und Nihilismus ist, musikalisch überraschend traditionell, in einen starken, vernichtenden Song übersetzt.
Dieses Verlassen auf konventionelles Songwriting wäre der Schritt gewesen, Joji endgültig in die Realität der Frank Oceans zu katapultieren. Doch große Teile von "Smithereens" kranken an den plakativsten Stellen einer Bedroom-Indie-Generation, die trotz lange im Studio aufgenommener Musik nie aus ihrem Bedroom-Mindset herauswachsen wollen. "Smithereens" ist schon allein laut der Tracklist ein Skizzentape. "Demo" und "Freestyle" entschuldigen sich die Songtitel für die eigene Unausgegorenheit. Man spürt: Es gab pro Song genau eine Idee, und die in irgendeine Richtung zu entwickeln, das wäre zu viel gewesen.
So zerstäuben Vibes wie "Night Rider", "Dissolve" oder "Feeling Like The End", bevor sie einen richtig nachhaltigen Eindruck hinterlassen konnten. Stellen, an denen musikalische Steilvorlagen für den nächsten Herzensbrecher liegen, werden nichtssagend und textlich lieblos aufgefüllt. Die Ambition zum Klassiker bleibt aus, stattdessen sollen Indie-Sound-Klischees, Ambience und ganz viel Reverb den Karren voranschieben. Textstellen wie "It's so hard just being me sometimes / I wish I could escape out my mind / Got too many situations / Complicating things, I run out of time" überstehen in ihrer geradezu banalen Direktheit doch nicht den Demo-Recording-Zustand.
Und das Schlimmste an alledem? Die vorliegenden Skizzen sind teilweise so schmerzlich vielversprechend. Der charakterstarke, minimale Bass auf "Night Rider", die verschwindende Ambience auf "Dissolve", die jazzige Verzerrtheit des Pianos auf "1AM Freestyle" - es könnte absolut sein, dass man dieses Album irgendwann auspackt, wenn man dramatisch-melancholisch durch die Nacht stolpert, denn trotz der unterentwickelten Songs fühlt es sich klanglich wie eines der besten Alben an, die je gemacht wurden - es hat ja auch einen Grund, dass mit "Die For You" der einzig andere richtig ausgefeilte Song sofort viral ging.
"Smithereens" ist eine Baustelle von einem Album, die sich darauf verlassen kann, dass Joji als Figur immer noch faszinierend genug ist, dass die Fans sich lange genug damit aufhalten werden, um die ihr zu Grunde liegende Genialität freizuschaufeln. Es gibt genuin liebenswerte, melancholische und sehr schöne musikalische Momente auf diesem Album. Hätte er ein Jahr länger daran gearbeitet und die Songs aus ihren archetypischsten Phasen poliert, hätte sich hier vielleicht ein potentieller Klassiker verborgen.
So ist "Smithereens" bestenfalls eine Stagnation für Joji, die nicht auskommt, ohne mindestens einmal seinen Hintergrund als YouTube-Edgelord zu erwähnen, um daran zu erinnern, dass wir es hier tatsächlich mit einem komplexen und beachtenswerten Künstler zu tun haben. Diese Platte auf den ersten Blick als nichtssagenden Echo-Friedhof ohne jedes echte Songwriting abzustempeln, das wäre ohne dieses Wohlwollen nicht schwer.
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