laut.de-Kritik
"Fantastic girl with heaven words" (Jimi Hendrix).
Review von Giuliano BenassiAuch die Kanadierin ist auf den Geschmack der Ausschlachtung ihres alten Materials gekommen. Im Grunde genommen legte Joni Mitchell den Grundstein bereits 2000 mit den orchestralen Arrangements vergangener Stücke, benannt nach einem ihrer berühmtesten, "Both Sides Now". 2014 folgte die liebevoll kurierte Zusammenstellung "Love Has Many Faces" auf vier CDs. Das Fanherz höher schlagen ließ sie wieder 2020 mit den schlicht betitelten "Archives - Volume 1", die auf 5 CDs ihren Werdegang ab 1963 als junge Singer/Songwriterin begleitet, inklusive dem Geräusch aufschäumender Milch, während sie in einem Café ihre frühen Lieder spielt.
Das vorliegende "Archives Vol. 2: The Reprise Years (1968-1971)" befasst sich nun mit dem Durchbruch. 1967 zog Mitchell nach New York, bald verlegte sie ihren Wohnsitz jedoch in den Laurel Canyon bei Los Angeles, wo sie heute noch lebt. In ihrer Wohnung in New York schrieb sie gerne, weshalb viele Stücke hier entstanden, auch nach ihrem Umzug. Praktisch, dass sie sie an ihre Tourmanagerin Jane Lurie vermittelte, was die unterschiedliche Bezeichnungen des Ortes im Booklet erklärt ("Home Recording", "Chelsea", "Jane Lurie").
Neben Urversionen später bekannter Lieder und solchen, die in der Schublade verschwanden, bietet diese Zusammenstellung auch alternative Studioversionen und, vor allem, wunderbare Liveaufnahmen.
Die im Vorfeld am meisten erwartete stammt aus dem Le Hibou Coffee House im kanadischen Ottawa. Mitchells erstes Album sollte erst wenige Tage später auf den Markt kommen (am 23. März 1968, das Konzert war am 19.), doch hatte sie sich bereits einen Namen gemacht. Jedenfalls stand Jimi Hendrix am Eingang, der am selben Tag in der Stadt spielte und sie fragte, ob er ihr Konzert aufnehmen dürfe. Es muss ein wunderbares Bild gewesen sein: Ein unerkannter Superstar, der vor einer vielversprechenden Neuentdeckung kniet - und das wörtlich, denn die Bühne war gerade mal 30 cm höher als der Zuschauerraum und er kauerte direkt vor ihr - und dabei ein Aufnahmegerät bedient. "Fantastic girl with heaven words", schrieb Hendrix in sein Tagebuch. Eine ziemlich gute Beschreibung.
In den folgenden Tagen wurden das Band aus Hendrix' Tourwagen gestohlen und galt als verschollen, bis es ein halbes Jahrhundert später in einer Sammlung auftauchte, die der Nationalbibliothek Kanadas gespendet wurde. Gerade rechtzeitig, um für diese Sammlung berücksichtigt und aufgearbeitet zu werden.
Einen viel größeren Rahmen bot im Januar 1969 die New Yorker Carnegie Hall. Das Konzert besuchten neben Mitchells damaligem Freund Graham Nash auch ihre Eltern und Größen wie Bob Dylan. Unbeeindruckt spielte und erzählte sich Mitchell durch ihr noch junges Repertoire und bot unter anderem wunderbare Versionen von "Both Sides Now" und "The Circle Game" in einem Medley mit "Little Green". Gitarre und Klavier beherrschte sie bereits, bald sollte ein drittes Instrument hinzukommen, das Dulcimer, eine Zither aus den Appalachen im Osten der USA.
Wahrhaft historisch war Mitchells Auftritt in New York in der lockeren Talkshow Dick Cavetts. Am 18. August 1969 hätte sie beim Woodstock Festival spielen sollen. Nash stieg mit Crosby, Stills und Young in einen Hubschrauber und wurde unsterblich, sie dagegen saß auf Bitten ihres Plattenchefs David Geffen in ihrem Hotel, um die Sendung ja nicht zu verpassen. Während sie ungläubig im Fernsehen die Bilder der Völkerwanderung sah, zu der das Festival wurde, schrieb sie eines ihrer berühmtesten Lieder, "Woodstock". Wie es das Schicksal will, kam die Band rechtzeitig zurück, Crosby und Stills begaben sich mit ihren matschigen Hosen direkt ins Studio und rissen die Aufmerksamkeit an sich. "Well something's lost, but something's gained / In living every day", hatte Mitchell passend in "Both Sides Now" erkannt.
Am schönsten ist (womöglich) aber das Konzert, das Mitchell Ende 1970 in London gab, für die von John Peel präsentierte BBC-Sendung "In Concert". Sie hatte sich eine Auszeit gegönnt, die sie in Griechenland und Spanien verbracht hatte, einige Lieder für "Blue" geschrieben und mit James Taylor angebandelt, der bei den kurz später angesetzten Aufnahmen aushalf, und auch hier mit dabei war. Sie spielten einige Stücke zusammen ("A Case Of You", "California", "For Free", "The Circle Game" und Taylors "You Can Close Your Eyes"), bezaubernd ist auch die Art und Weise, wie ihre Instrumente verschmelzen. Ein Paar für die Ewigkeit - auch wenn die Ewigkeit, wie davor bei Nash, nach wenigen Monaten ein abruptes Ende fand.
Wie schon bei "Vol. 1" kümmerte sich Mitchell um die Materialauswahl, stellte Fotos zusammen und ließ sich für das Booklet ausführlich von Rolling Stone-Journalist und Filmregisseur Cameron Crowe interviewen. Allein das ist schon die Investition wert. Neben vielen Informationen bietet das Gespräch auch einen Ausblick: "Vol. 3" wird sich mir dem Material von "For The Roses (1972)" über "Court and Spark" (1974) bis hin zu "Hissing Of Summer Lawns" (1975) beschäftigen.
Bis dahin bleibt genügend Zeit, diese wunderbare Zusammenstellung und Mitchells magische Stimme zu genießen. Wer dann noch nicht genug hat (ist das überhaupt möglich?), kann sich mit der im Juni 2021 erschienen Jubiläumsausgabe ihrer ersten vier Alben beschäftigen - "Song To A Seagull" (1968), "Clouds" (1969), "Ladies Of The Canyon" (1970) und natürlich "Blue". Mitchell hat sich persönlich darum gekümmert und auch endlich den Sound ihres ersten Albums bereinigt, das von Davis Crosby produziert worden war. "Der Originalmix war entsetzlich. Er klang, als wäre er unter einer Schüssel mit Wackelpudding aufgenommen worden, also habe ich ihn repariert", so Mitchell. Trotz gesundheitlicher Probleme hat sie ihre Entschlossenheit zum Glück nicht verloren.
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