laut.de-Kritik

Diese polnische Seele macht glücklich.

Review von

"Meine Songs haben eine gewisse Mentalität, da steckt die Seele einer polnischen Person drin", erzählt Julia Marcell Anfang September im Interview. Die mir am nächsten stehende polnische Seele ist meine Großmutter. Da trägt es mein inneres Auge zurück in meine Kindheit, auf Familiengeburtstage und -Festtage, auf denen Oma die Anwesenden mit polnischen alten Volksmusikschinken unterhielt. Zugegebenermaßen bricht da in Gedanken an Popmusik, wie "June" es nach eigener Aussage der Künstlerin ist, ein wenig Angstschweiß aus.

Wer aber via Facebook Props von Marteria für sein "sensationelles Album und diesen schönen Song!" (der Rapper bezieht sich hier auf die Single "Matrioszka") einfährt, der entfernt sich schon wieder von der betagten Großmutti, für die Facebook immernoch großzügig übersetzt Gesichtsbuch bedeutet. Und auch die Furcht vor polnischer Folklore erledigt sich, sobald die ersten übersteuerten Paukenschläge von "June" ertönen. Zwar finden traditionelle Instrumente wie Streicher und Flöte durchaus Platz in Julias Songs, mit Polkatänzen am Weichselufer hat das aber wenig zu tun.

Eher sind Rhytmus und elektronische Drums der Nährboden, auf dem ihre starke Stimme wächst. In aufgedrehten Momenten klingen die Beats dem britischen Duo Sleigh Bells ähnlich, nachdem ein Exorzist den dämonischen Cheerleadern den Wahnsinn ausgetrieben hat ("June", "Ctrl", "Shhh"). Soll heißen: an schnarrenden Bässen und tanzbaren Rhytmen mangelt es Julia nicht.

Doch den Kammerpop ihres Debüts "It Might Like You", den sie nun größtenteils gegen experimentelle Elektro-Spielereien getauscht hat, kann und will sie nicht ganz vergessen. In melancholischen Momenten kehrt sie zurück an ihr geliebtes Piano, wie in "Echo", in dem sie polnische Backing Vocals nutzt. Hypnotisch-düster hämmert sie die Tasten im leidenschaftlichen "Crows", dass als harmloses Glockenspiel beginnt und später als explosives Dark Pop-Feuer lodert.

Auch ein Cembalo kommt im Intro für "Gamelan" zum Zuge. Hier zitiert sie fragmentarisch aus Culture Beats "Mr. Vain": "I don't know what I want, but I want it now". Einzig mit fließenden Streichern und leicht angedeutetem Bass kommt das rein instrumentale "Shores" aus, das in der Mitte des Albums den Kreis zum Opener schließt, indem es dessen Gesangsmelodie nochmals aufnimmt.

Die Pause hat Julias Stimme nötig, steht sie doch unentwegt im Fokus des Hörers. Irgendwo zwischen Björk und Kate Bush blüht ihr angenehmes Organ. Mal klar und stark ("Cntrl", "Shhh", "Crows"), mal flehend und hauchend ("Matrioszka", "Echo", "I Wanna Get On Fire") oder verfremdet, wie im Closer "Aye Aye", das mit beinahe vogelähnlichen Lauten eines der raren weniger zugänglichen Stücke ist. Aber an einen abgeschossenen Truthahn erinnerten beim ersten Hören auch Caribous "Odessa" - und das funkelt heute als heller Stern am Indiehimmel.

Julia Marcell driftet bei weitem nicht in so psychedelische Elektro-Sphären ab wie Dan Snaith. Dafür hat sie eingängige Melodien und zuckersüße Popsongs viel zu gerne. Wie, wenn sich Sleigh Bells und Björk auf eine Zuckerwatte auf dem Jahrmarkt treffen und nebenbei gemeinsam Musik machen. Das Resultat ist ein kurzweiliges und abwechslungsreiches Album, in das die Künstlerin so viel Kreativität investiert, dass das zusammenhangslose Cover nicht weiter schlimm ist.

"Das ist das Gefühl, was ich habe, wenn ich June höre", erklärte sie ihr Design einst im Interview. Das könnte bedeuten, dass "June" das Gefühl gibt, an den Haaren gezogen zu werden. Oder, dass einem die Haare zu Berge stehen. Aber eigentlich möchte man sich hineinlegen, in die Streicher, die Beats und die warme Stimme Julia Marcells und niemals wieder aufstehen. "Pets and bets and Jesus couldn't make me happy", singt sie im Titelsong. Das vielleicht nicht, aber "June" kann es!

Trackliste

  1. 1. June
  2. 2. Matrioszka
  3. 3. Since
  4. 4. Ctrl
  5. 5. Gamelan
  6. 6. Shores
  7. 7. Echo
  8. 8. I Wanna Get On Fire
  9. 9. Crows
  10. 10. Shhh
  11. 11. Aye Aye

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