laut.de-Kritik

Die Uhren laufen langsamer, die Umgebung um uns wird stiller.

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In ihren besten Augenblicken formt Musik ihre eigene Situation. Ungefragt dringt sie in dein Leben und modelliert die Realität. Sie lässt dein Herz schneller klopfen, Emotionen Purzelbäume schlagen und verfügt über die einmalige Fähigkeit, das Raum-Zeit-Gefüge durcheinander zu wirbeln. Ihre Zauberkunst macht sie zur Zeitmaschine, ist Religion, Sex, Blüte und Niedergang zugleich. Sie dient nicht, sie verführt und fordert heraus. Wie schon Friedrich Nietzsche sagte: "Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum."

Julianna Barwicks "Nepenthe" fordert alle Aufmerksamkeit. Die Uhren laufen langsamer, die Umgebung um uns wird stiller. Ihre ungebrochenen und lichtdurchfluteten Ambient-Folk-Klanggebilde lassen Platz für jegliche Interpretation. Wir tauchen ein in ein undefiniertes Reich. Sie händigt uns das Auryn und damit die Macht der Neugestaltung aus. Wie Bastian Balthasar Bux können wir diese Welt selbst erschaffen, uns aber auch in ihr verlieren.

Für ihre musikalische Vision schichtet die in Brookyln lebende Künstlerin ihre vom Echo getragene Stimme Loop um Loop übereinander. Mit jeder weiteren Gesangsspur entsteht mit minimalem Beistand von Synthesizern, Gitarren und Streichern ein zerbrechlicher Organismus. Unbewusst hält man den Atem an, fährt den Herzschlag herunter. Jede Handlung könnte die vergänglichen Gebilde wie Seifenblasen zerplatzen lassen.

Bisher zeichnete Barwick für ihre Aufnahmen gänzlich alleine verantwortlich. Auf "Nepenthe" findet sie Unterstützung in Island. Mit der Hilfe von Alex Somers, Sigur Rós-Produzent und Jónsi Birgissons Lebensgefährte, entstand im Sundlaudin-Studio in Reykjavik ein ätherischer Longplayer. Die amerikanische Sirene übertrifft den Vorgänger "The Magic Place" in Tiefe, Sensibilität und emotionaler Komplexität. Barwick erfindet sich nicht neu, entwickelt sich aber bedachtsam weiter. Das String-Quartett Amiina, Múm-Gitarrist Róbert Strurla Reynisson und ein Mädchenchor erweitern ihre Möglichkeiten, verwässern dabei aber nicht die Identität der Musikerin.

Barwick gestaltet mit dezenten Mitteln jedem einzelnen ihrer Sound-Fjorde eine eigene markante Steilküste. Das Zeitlupen-Drama "The Harbinger" unterlegen eindringliche Piano-Akkorde. Das albtraumhaft flackernde Licht der Streicher in "Pyrrhic" durchbricht körperloses Weinen. Wenn im sakralen "Forever" nach kurzer sphärischer Andacht die Stimme mitsamt dem Klavier einsetzt, gehört dies zu den berührendsten Momenten auf "Nepenthe".

Im sich ausweitenden "One Half" führt Barwick uns erstmals und das einzige Mal mit wenigen Worten an der Hand. Unwirklich wie ein Geist, ein flüsterndes Ego aus vergangenen Tagen. "I guess I was asleep that night / just waiting for." Zehn Worte. Das ist alles. Für einen kurzen Moment bricht die Künstlerin deutlich erkennbar aus dem sie umgebenden Nebel hervor, nur um kurz darauf wieder in ihm zu verschwinden.

In Verbindung mit dem im April erschienenen The Haxan Cloak-Album "Excavation" bildet "Nepenthe" auf seltsame Weise ein Taji, ein Yin und Yang aus Wärme und Kälte. Wo "Excavation" verletzt, heilt "Nepenthe" (ein Zaubermittel das Helena in der Odyssee erhält) den Kummer. Edgar Allen Poe ließ seinen Raben auch schon von dem Elixier erzählen. Dort heißt es: "'Ärmster', rief ich, 'sieh, Gott sendet seine Engel dir und spendet Nepenthes.'"

Trackliste

  1. 1. Offing
  2. 2. The Harbinger
  3. 3. One Half
  4. 4. Look Into Your Own Mind
  5. 5. Pyrrhic
  6. 6. Labyrinthine
  7. 7. Forever
  8. 8. Adventurer Of The Family
  9. 9. Crystal Lake
  10. 10. Waving To You

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