laut.de-Kritik

Eine der großen Integrationsplatten und Schubladenkiller des 20 Jahrhunderts.

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Es ist sicher keine Alltäglichkeit, wenn ein Album, das bei Jazz/Klassik einsortiert ist, knapp vier Millionen Exemplare verkauft. Das alles sogar ohne großen Werbeaufwand, nur aufgrund simpler Mundpropaganda. Das Album, um das es hier geht, avancierte vom schicken Geheimtipp zu einem popkulturellen Aushängeschild, das Conaisseure wie Hipster gleichermaßen auf dem heimischen Plattenteller zirkulieren lassen. Mit anderen Worten: Es dreht sich hier um Keith Jarretts "The Köln Concert".

Rein formal betrachtet ist die Aufnahme ein Meilenstein des Jazz und der Improvisationskunst. Wer jedoch einen sinnlicheren Blick riskiert, entdeckt viel mehr. Hier geht es weder um Jazz noch Klassik oder irgendein Genre. Alles dreht sich um pure Schönheit und emotionalisierende Klänge, die sich jeder Kategorisierung erfolgreich verweigern. Ähnlich wie Oldfields "Tubular Bells" aus dem Rock/Pop-Sektor, ist Jarretts Solopiano-Performance ein Solitär, dessen Zauber so gut wie jeden erreicht. Vollkommen unwichtig, was genau der Hörer ansonsten konsumiert, und ob man Jazz bei geistiger Klarheit nicht mit der Kneifzange anfassen würde. "The Köln Konzert" ist eine der großen Integrationsplatten und Schubladenkiller des 20 Jahrhunderts. Die Geschichte dieser Kult-LP hingegen ist eine echte Horrorstory. Am Ende ist es ein Wunder, dass sie überhaupt existiert.

24. Januar 1975: Jarrett kommt nach einem Gig und tagelanger Schlaflosigkeit mit dem Auto aus der Schweiz. Es erwartet ihn ein Bild des Grauens: Die verantwortliche Konzertpromoterin ist minderjährig, das Hotelzimmer eine Zumutung. Das wenige ungenießbare Essen kommt erst Minuten vor Konzertbeginn an. Die Belegschaft verwechselt das Instrument, so dass Jarrett nur ein total verstimmter Schrotthaufen erwartet, der längst nicht mehr alle Tasten im Schrank hat sowie ein kaputtes Pedal. Zur Krönung brach damals ein akutes Rückenleiden Jarrets aus, das ihn zum Tragen eines Korsetts zwingt.

Doch da ansonsten alles in bester Ordnung ist, lässt sich der Pianoman des Publikums wegen zum Auftritt überreden. Jarrett will in Ansehung solch haarsträubender Vorzeichen keine Liveaufnahme. Zum Glück entscheiden sich die Tontechniker heimlich für einen Mitschnitt. Ohne diese Courage gäbe es bis heute keinerlei Dokumentation des einmaligen Ereignisses. So sitzt der noch immer angepisste, komplett übermüdete, ausgehungerte und schmerzerfüllte Musiker etwas später vor 1.400 Gästen in der Kölner Oper und wartet auf die erlösende Inspiration. Vor ihm keine Band; nur ein Kasten, neben dem jedes durchlöcherte Saloonklavier aus dem Sezessionskrieg wie ein nagelneuer Boesendorfer wirkt. Man sieht es dem Cover der Platte im Grunde auch an.

Ausgerechnet der Pausengong der Kölner Oper bricht alles Eis. Jarrett nimmt ihn kurzerhand als Intro. Urplötzlich sind alle Schleusen auf. Die typische, fast messianische Keith-Atmosphäre stellt sich augenbicklich ein. Schon die ersten zwölf Minuten von "Part 1" haben es in sich. Absolut perfekt für Einsteiger. Denn Jarrett spielt ausschließlich, um Gefühle zu vermitteln. Medien, Musikpolizei oder selbstverliebte Soli interessieren ihn nicht. So wandelt er seinen womöglich stressigsten Karrieremoment in eine der lieblichsten Passagen überhaupt um.

Wie Strahlen von Mondlicht perlt das erste zwischendurch stets wiederkehrende Kernthema durch den Raum. Alles so geschlossen und eingängig, dabei so romantisch wie Chopin. Hieraus schält er eine Melodie zum Niederknien und perfekter Anspieltipp: Nach gut fünf Minuten baut sich eine Dramatik auf. Jarrett gibt mit kaputtem Pedal den Rhythmus dazu. Er lässt kurz nach der siebten Minute alles in einem der schönsten musikalischen Momente aller Zeiten kulminieren. Von hier an spielt sich der Mann, der kurz vorher noch mit Miles Davis eine Bühne teilte (u.A. "Live Evil") hörbar in totale Ekstase.

Das akustische Wunder geschieht: Man bemerkt den miserablen Zustand des Instruments nicht eine Sekunde. Kein einziger der zahlreich fehlenden Töne wird vermisst. Dafür klingt der Amerikaner konstant, als habe er drei Hände. Besonders deutlich vernehmbar in "Part 2a", einem offensiven Boogie. Jarrett legt alle Wut und Pein in einen mitreißend aggressiven Anschlag.

Mit "Part 2b" erzeugt er mittels repetitiver Klangmuster einen elegischen Malstrom, der sich in seiner zweiten Hälfte zum echten Hollywood-Melodram steigert. So wechseln sanfte und tobende Stimmungen einander ebenso ab, wie hundert Stile mehrerer Jahrhunderte. Ganz egal, ob groovy, rau oder soft. Mit unerschöpflichem Vorrat eingängiger Motive und Gegenfiguren geleitet er den Hörer sicher durch das akustische Gelände.

Nach einem relaxten Finale klingt eines der größten Solokonzerte aller Zeiten aus. Nur wenige Monate später wird dieser ultimative "Pain-In-The-Ass"-Moment Keith Jarrett zu einem der wenigen, ewigen Popstars des Jazz- und Klassik-Genres machen. Das Genie selbst sieht alles deutlich nüchterner: Wenn die Musik schon in dir ist, dann sollst du sie gefälligst auch spielen." Weiterhören mit "Bremen/Lausanne" und dem tollen Spätwerk "La Scala".

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Part I
  2. 2. Part II a
  3. 3. Part II b
  4. 4. Part II c

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14 Kommentare mit 3 Antworten

  • Vor 10 Jahren

    Kann mal jemand Meilenstein fuer Cyndi Lauper oder die Bangles?

  • Vor 10 Jahren

    Ich müsste dem Herrn Anwalt eigentlich irgendwann mal eine richtig gute Flasche Rotwein schicken für die vielen grandiosen Neuentdeckungen, die ich dank ihm hier schon gemacht habe. Ich hab vorher von dieser Aufnahme noch nie gehört (was wahrscheinlich nicht für mich spricht), sie gestern zum ersten mal von vorn bis hinten gehört und bin immer noch hingerissen. Ich hab selten etwas so Erhabenes gehört, was umso beeindruckender ist, wenn man das kaputte Klavier bedenkt.

  • Vor 7 Jahren

    Seit 6 Monaten eigentlich überall in jeglicher Form dabei egal wie oft die playlist drumherum wechselt das bleibt drauf.... auf irgendeinem flohmarkt wird mir mal die vinyl in die Hände kommen....
    Schon sehr geil was man mit einem Instrument über Stunden hinkriegen kann