laut.de-Kritik

Zwischen radikaler Zärtlichkeit, Deep Listening und Clubnächten.

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Knappe sechs Jahre, in den Logiken der Popwelt eine mittlere Ewigkeit, ist Kelelas bahnbrechendes Debütalbum "Take Me Apart" bereits alt. Der dunkle, sinnliche Elektro/R'n'B hat sich derweil vielerorts etabliert, von Kelela folgte allerdings lange – nichts. Wobei das auch nur die halbe Wahrheit ist.

Weitgehend unbemerkt veröffentlichte die heute 39-Jährige im Sommer 2019 einen einstündigen Ambient-Mix, der rückblickend als deutlicher Fingerzeig gedeutet werden darf. Darauf sang, oder besser, schwebte sie – als Anlass diente der 30. Geburtstag ihres Labels Warp Records – über abstrakte Ambient-Stücke von Künstler*innen wie Autechre, Oneohtrix Point Never oder, etwas überraschender, dem Berliner Duo OCA.

Bereits zuvor war Kelela nicht zwangsläufig dadurch aufgefallen, sich an starren Genrezuschreibungen aufzuhalten. Zwar liegen ihre Wurzeln eindeutig im R'n'B, Verbindungslinien insbesondere zu progressiver Tanzmusik ließen sich allerdings schon auf ihren frühen Mixtapes "Cut 4 Me" und "Hallucinogen" nachzeichnen. Und dennoch betritt "Raven" nun gewissermaßen zweierlei Neuland: Zum einen sind da die entlegenen, fast schon an eine Deep Listening-Erfahrung angrenzenden Ambient-Nichtstrukturen, die weite Teile des Albums einrahmen. Und zum anderen sind es die unverhohlenen Bezüge zur (schwarzen) Clubkultur, die mittlerweile selbst im Mainstream Hochkonjunktur erfahren, aber selten (lies: nie) so formschön und -vollendet wie auf "Raven" klangen.

Kelela ist eine Innovatorin, so viel steht fest. Was könnte also besser passen, als dass große Teile des Albums in Berlin entstanden sind, einer Stadt, der sich vieles, aber sicher nicht fehlendes Bewusstsein für Grenzüberschreitungen attestieren lässt. Fixpunkte der diversen, fein kuratierten Produzentenliste sind die dort ansässigen Yo van Lenz, Teil des Duos OCA, und DJ-turned-Performer LSDXOXO. In diesem energetischen Spannungsfeld zwischen Breakbeat, Jungle, Trip Hop und Ambient, sozusagen der Nebelzone zwischen Dancefloor und Nachhauseweg, bewegt sich Kelela derart ästhetisch, sinnlich und zuweilen performativ, dass man denken könnte, sie hätte in ihrem Leben nicht viel anderes getan, als in Berliner Clubschlangen zu stehen.

Im Zentrum des Albums steht allerdings weit mehr als der vermeintliche Hedonismus nicht-endender Clubnächte. Die entscheidende Metapher von "Raven" ist, das lässt sich unschwer am gelungenen Artwork erkennen, das Wasser in seiner Bedeutung der Selbsterneuerung. Das Motiv zieht sich, mal ganz offenkundig wie in den himmlischen In- und Outro-Stücken "Washed Away" und "Far Away", und mal ganz subtil wie im hauchzarten "Sorbet" ("Waves when we touch, rippling in") sowohl durch die Produktionen als auch Kelelas makellosen Gesang.

Am besten lässt sich das "Raven" wohl anhand seines Titelsongs erzählen. Das Stück beginnt mit minimalistischen Synth-Akkorden, die Kelelas intimer und bestimmter Sopranstimme nur den allernötigsten Boden bereiten. Kaum spürbar dreht der Wind mithilfe von Reverbs und Klaviernoten in Richtung eines Four-to-the-floor-Beats, um den sich Kelelas Gesang ebenso gewunden schmiegt. Die neue körperliche Intensität wird (in einer der unzähligen wundervoll abgemischten Transitions) lückenlos vom darauffolgenden Song "Bruises" aufgenommen, in dem sich Kelela gegen repressive Beziehungsstrukturen wendet: "You're watching me work, you don't even try".

Überhaupt gehören die Break-induzierten Produktionen von LSDXOXO und Asmara wie "Contact" oder "Happy Ending" zu den aufregendsten Momenten auf "Raven", Kelelas Neigung zu (außer-)körperlicher Ekstase und ihre unnachahmliche sexuelle Energie ("Your lips and mine, babe / Out on the floor / We're intertwinеd, baby") funktionieren hier am besten. Weitere Standouts lassen sich ob ihrer schieren Fülle nur schwerlich herauspicken, nicht unerwähnt bleiben kann "Closure", ein bass-durchsetzter Slow-Banger, der im besten Sinne Assoziationen zum 2016-Grind von Abra weckt. Auf dem Song rappt Rahrah Gabor, Eastcoast-Künstlerin und einzige Feature-Gästin des Albums, einen denkwürdigen weil klirrend kalten Part: "Uh, what the lick read? / I'm waiting for you to pull up and come lick me".

"Raven" ist in Kelelas eigenen Worten ein Album von und für "Black Femmes". In den letzten Momenten des Openers "Washed Away" hört man sie in ein tiefes Wasser eintauchen, sozusagen der Beginn einer Heilungsreise, die mit Liebe, radikaler Zärtlichkeit, aber auch roher Wut durchschritten wird. Der letzte Song "Far Away" spült Kelela nun wieder an, ganz im Einklang mit sich und ihrer Umgebung: "The mist, the light, the rain that pours / And the floody nights". Auch oder gerade wegen dieser Bestandteile ist "Raven" ein wunderschönes, tief komplexes Album, dessen Layer sich nach und nach offenlegen.

Trackliste

  1. 1. Washed Away
  2. 2. Happy Ending
  3. 3. Let It Go
  4. 4. On the Run
  5. 5. Missed Call
  6. 6. Closure
  7. 7. Contact
  8. 8. Fooley
  9. 9. Holier
  10. 10. Raven
  11. 11. Bruises
  12. 12. Sorbet
  13. 13. Divorce
  14. 14. Enough for Love
  15. 15. Far Away

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