laut.de-Kritik

Planspiele zwischen Dystopie und Utopie.

Review von

In einer Welt, in der die Geschwindigkeit und das digitale Zeitalter immer schneller voranschreiten, müssen wir als Menschheit erörtern, wie wir unser zukünftiges Leben gestalten und wie wir mit der wachsenden Dichotomie zwischen Fortschritt und resultierenden Freiheitseinschränkungen umgehen wollen. Genau diese Fragen stellen Long Distance Calling dem Hörer aktiv als tragenden, konzeptuellen Überbau ihres siebten Albums "How Do We Want To Live?" in aller Dringlichkeit. Wie also denken wir über das derzeit gelebte, in die Welt von Morgen führende Verhältnis zwischen Natur und Technik sowie zwischen Mensch, Maschine und Künstlicher Intelligenz?

Obwohl die Arbeiten zu "How Do We Want To Live?" bereits vergangenen November noch vor Ausbruch der Corona-Pandemie begannen, spielt die derzeitige Weltlage unvermeidlich mit ins Konzept hinein. Zu groß die Auswirkungen der Lockdowns und die Erfahrungen der Entfremdung aber auch der Entschleunigung für jeden von uns, um sie bei diesen Planspielen zwischen Dystopie und Utopie zum persönlichen Erkenntnisgewinn nicht mit einzubeziehen.

Dass die Münsteraner bei diesem spannenden Gesamtnarrativ auch einen feinen Sinn für retrofuturistische Science-Fiction an den Tag legen, zeigt schon das an Arthur C. Clarke- oder Perry Rhodan-Bucheinbände erinnernde Albumcover des Augsburger Grafikdesigners Max Löffler, der auch das Cover von Elders Instrumental-EP "The Gold & Silver Sessions" entwarf.

Bei der musikalischen Umsetzung des Narrativs der Platte geben sich Long Distance Calling anno 2020 ebenfalls dem Progress hin. Stark wie nie zuvor setzen sie auf eine Ästhetik aus elektronischen Klangelementen, die sich aber zu jeder Zeit völlig natürlich in das Gesamtbild einfügen. Das bedeutet im Umkehrschluss zwar eine spürbare Abkehr vom rifflastigen Bombast des Vorgängers "Boundless".

Da jedoch alle typischen Trademarks der Band unverkennbar vorhanden sind, wirkt diese sonische Bereicherung zu keiner Zeit störend. Ganz im Gegenteil: Die instrumentalen Klangarchitekturen aus luftigem, meditativ-repetitivem Post-Rock strotzen nur so vor kompositorischem Ideenreichtum, Melodiefülle, Spontaneität, unerwarteten Momenten und überraschenden Spannungsbögen, die den Hörer in ihren Bann ziehen.

Die über einem elektronischen Drone gesprochenen Worte "Curiosity is a real bastard" eröffnen die Platte in "Curiosity (Part 1)". Zweck des stimmungsvollen Präludiums ist es, den Hörer mit einer Vielzahl von um das Sujet des Albums gestrickten und in stimmungsvoller Spoken Word-Manier deklamierten Zitaten (unter anderem von Bill Nye) enigmatisch in das mentale Szenario einzuführen. Diese Erzähltechnik zieht sich durch das komplette Album und treibt so lenkend das zugrundeliegende Gedankenexperiment voran. Fast vergisst man dabei, dass es sich hier eigentlich um eine Instrumentalplatte handelt. Ganz nebenbei knüpft die Band damit auch ein Stück weit an ihr Debütalbum "Satellite Bay" von 2007 an, das ebenfalls eine Fülle von Spoken Word-Parts birgt.

Bereits nach kurzer Zeit leitet der Eröffnungssatz über in das grandiose "Curiosity (Part 2)", mit dem die bildererzeugende Reise Fahrt aufnimmt. Besonders herausragend: das warme, fuzzgetriebene Solo in bester David Gilmour-Manier, das sich immer weiter in geradezu schwindelerregende Höhen aufschichtet und die Grundaussage des Songs "It fills me with joy to make discoveries everyday of things I've never seen before" lautmalerisch perfekt umsetzt. Long Distance Calling stecken mit diesem Track fast vollständig die musikalische Grundrichtung des Albums ab. Gekonnt reihen sich neugierig-verträumte Melodien an stampfende Riffs und stoisch nach vorne treibende Parts.

Die überirdische Entdeckerfreude am Entwickeln neuer Techniken und neuer Technologien allerdings bringt nicht nur Vorteile, sondern geht auch mit zum Teil existentiellen Risiken einher. "Hazard" beispielsweise warnt sehr emotionsgeladen und eindringlich vor den Gefahren, die in der mittlerweile enorm boomenden Erforschung von Künstlicher Intelligenz verborgen liegen. Musikalisch wurzelt die Band hier stärker im Post Rock und nutzt wesentlich weniger elektronische Elemente als in den restlichen Tracks des Albums.

Dabei liefern die Westfalen ein hervorragend arrangiertes aurales Kopfkino par excellence und wecken zum Teil Erinnerungen an die Genrekollegen von God Is An Astronaut. "If an A.I. possessed any one of these skills - social abilities, technological development, economic ability - at a superhuman level, it is quite likely that it would quickly come to dominate our world in one way or another", heißt es im ruhigen Mittelpart des Songs auf Grundlage des Buches "Smarter Than Us. The Rise of Machine Intelligence" von Oxford-Professor Stuart Armstrong aus dem Jahr 2014, bevor der Song zum Ende hin in aller Weite förmlich explodiert.

Die prominente Nutzung von Elektronik kommt vor allem im getragenen, repetitiven "Voices" gleich kompositionstragend zur Anwendung. Diese bedient und programmiert die Band höchstselbst "mit dem Ziel, dass auch diese elektronischen Elemente so homogen klingen wie unsere Instrumente. Immer noch menschlich statt maschinell", wie Drummer Janosch Rathmer zu Protokoll gibt. Über weite Strecken greifen Long Distance Calling hier auf einen Vocalsynth namens Arcade zurück, der dem Track ein futuristisches, schwebendes Flair verleiht, einem Theremin nicht unähnlich.

Über idyllisch wirkenden Gitarren-Arpeggios steigern die Instrumentalrocker den Song zum Ende hin mit wachsender Intensität und eleganter Kompositionsfreude zu einem echten Banger inklusive an Pink Floyds "Marooned" ("The Division Bell", 1994) erinnerndes Gitarrensolo. Der dazugehörige Videoclip behandelt die Beziehung eines Menschen zu einer gewalttätig werdenden Künstlichen Intelligenz und greift, logisch stringent fortschreitend, den Inhalt von "Hazard" auf. Sollten wir also die Büchse der Pandora öffnen und zukünftig Androiden entwickeln? Wenn ja, wie wollen oder müssen wir Teile der Roboterethik gestalten, die wir dem Ganzen dann zugrunde legen? "Blade Runner" grüßt hier.

Je nachdem, wie wir uns entscheiden, liegt in der Antwort auf diese Frage Verderben und Chance zugleich. Die tonale Untermalung des kurzen, in der Machart etwas an das "Prelude" aus Bonobos "Black Sands" erinnernden "Fail / Opportunity" drückt beides ebenfalls gleichermaßen aus. Wie in einer Traumsequenz schweben Synths und elektronisch erzeugte Beats vorüber, ehe Rathmers Schlagzeug und der bereits am Live-Album "Stummfilm" beteiligte Mainzer Gastcellist Luca Gilles mit einem wunderbar dramatischen Cello einsetzen und so für eine Verschmelzung analoger und digitaler Welten sorgen.

Im collageartigen Musikvideo zum rifflastigen, sehr mächtigen "Immunity" schließen Long Distance Calling die Brücke zur weltweiten Corona-Pandemie mit zur Zeit der Lockdowns weltweit entstandenem Videomaterial von verlassenen, öffentlichen Plätze, Nachrichtenbeiträgen, Krankenhausszenen. Die Kombination der schieren Kraft von "Immunity" mit den postapokalyptischen Bildern verfehlt ihre Wirkung nicht und unterstützt die Frage danach, wie wir leben und dabei gleichzeitig auf Technik bauen wollen bestens.

Das folgende "Sharing Thoughts" wartet zunächst mit verträumten Klaviertupfern und herrlich verhallten, minimalistischen Leads auf, bevor Long Distance Calling ihre archetypischen Riffsalven abfeuern, aus denen sich völlig überraschend erneut das Cello von Luca Gilles herausschält. "Whether we are based on carbon or on silicon makes no fundamental difference we should each be respected with appropriate respect", führt die Band am Ende des Tracks das Narrativ des Albums mit einem Zitat aus Arthur C. Clarkes Science Fiction-Klassikers "2010: Odyssey Two" (dt.: "Odyssee 2010 – Das Jahr, in dem wir Kontakt aufnehmen") fort.

Mit "Beyond Your Limits" knüpfen Long Distance Calling an eine ihrer älteren Traditionen an und arbeiten wieder für einen Song mit einem Gastsänger. Nach Star-Kollaborationen mit Peter Dolving (The Haunted), Jonas Renske (Katatonia), John Bush (Ex-Anthrax, Armored Saint) sowie Petter Carlsen und Vincent Cavanagh (beide Anathema) setzt die Band dieses Mal auf den eher unbekannten Eric A. Pulverich, Fronter der Göttinger Indie-Rocker Kyles Tolone. "Wir waren von seiner Stimme sofort fasziniert und wollten, [...] diesmal nur die Qualität der Stimme und die Melodien sprechen lassen statt irgendeines Namedroppings", begründet Basser Jan Hoffmann die Wahl. Tatsächlich passt die Stimme ausgesprochen gut zum Bandsound (der hier stellenweise sogar kurz an eine Kreuzung aus Tool und den Aschaffenburgern von My Sleeping Karma erinnert) und veredelt den Track zu einem weiteren Highlight.

Zum Ende hin schlägt der Vierer wieder ruhigere Töne an. Nach dem stark mit Industrial-Sounds und einem Zitat aus Terry Pratchetts "Thief Of Time" (dt.: "Der Zeitdieb") versehenen "True / Negative", bauen Long Distance Calling im würdigen Finale "Ashes" ein letztes Mal einen wunderbaren, kristallin-schwebenden Klangkosmos auf. Bemerkenswert hier auch die Wahl des aus "Matrix" stammenden Abschlusszitates, das den prominenten Monolog von Agent Smith zu seinem Gefangenen Morpheus über die Natur des Menschen wiedergibt. Darin werden wir als Krankheit und Plage der Erde bezeichnet, für die es nur ein Heilmittel gibt: Künstliche Intelligenzen. Müssen wir am Ende aufgrund von Raffgier und blindem, unhinterfragtem Konsum unseren eigenen Gott erschaffen, um uns als Menschen selbst in Schach zu halten? Die Antwort darauf liegt in jedem einzelnen von uns selbst verborgen.

Mit "How Do We Want To Live?" liefern Long Distance Calling die bisher beste und kompositorisch reifste Platte ihrer gesamten Bandgeschichte ab. Zum Einen liegt das am wahnsinnig spannenden, mit Spoken Words unterbreiteten Narrativ um die konstruktiv zum Nachdenken anregende Frage, wie wir zukünftig im Kontinuum aus Mensch und Künstlicher Intelligenz leben wollen - obwohl die Band dieses zutiefst technikphilosophische und bioethische Thema oft nur am Rande ankratzt. Die offene Textur dieser Unvollständigkeit aber gibt dem Hörer genau die richtigen Impulse, um selbst aktiv zu denken und sich mit Leichtigkeit im Album zu verlieren. Dazu braucht es jedoch auch Zeit, denn die Platte erschließt sich dem Hörer erst nach mehreren Durchgängen in voller Gänze.

Zum anderen liegt es an der wie aus einem Guss wirkenden musikalischen Umsetzung, bei der einfach alles stimmt. Die neuen elektronischen Elemente harmonieren meisterhaft mit dem höchst durchdachten und perfekt aufeinander abgestimmten Klangkosmos von Drummer Rathmer, Basser Hoffmann sowie den beiden Gitarristen Jordan und Füntmann. Die Produktion von Arne Neurand, das Mastering des französischen Spezialisten Jean-Pierre Chalbos und der vollständig analoge Mix sorgen zudem für eine HD-Klangreise der ganz besonderen Art, die man unbedingt mit einem guten Kopfhörer erleben sollte.

Das alles macht "How Do We Want To Live?" zu einem absolut stimmigen Gesamtkunstwerk und zu einem Fest für die Sinne, mit dem Long Distance Calling ein weiteres Mal eindrucksvoll ihren unangefochtenen Status als führende instrumentale Post Rock-Band Deutschlands bestätigen.

Trackliste

  1. 1. Curiosity (Part 1)
  2. 2. Curiosity (Part 2)
  3. 3. Hazard
  4. 4. Voices
  5. 5. Fail / Opportunity
  6. 6. Immunity
  7. 7. Sharing Thoughts
  8. 8. Beyond Your Limits
  9. 9. True / Negative
  10. 10. Ashes

Preisvergleich

Shop Titel Preis Porto Gesamt
Titel bei http://www.amazon.de kaufen Long Distance Calling – How Do We Want to Live? €14,56 €3,00 €17,55

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

8 Kommentare mit 23 Antworten

  • Vor 4 Jahren

    "Sollten wir also die Büchse der Pandora öffnen und zukünftig Androiden entwickeln? Wenn ja, wie wollen oder müssen wir Teile der Roboterethik gestalten, die wir dem Ganzen dann zugrunde legen? "Blade Runner" grüßt hier."

    Der Diskurs ist so alt und abgeranzt, und spekulative "what if...?" Rhetorik macht's nicht besser. Die Musik ist der typisch mäandernde Postrock Schnarch. Ne schöne Produktion inkl echt coolem Coverartwork...für die Kuhkatz.

  • Vor 4 Jahren

    Find die textlich ziemlich schwach 1/5

  • Vor 4 Jahren

    Fand ich schon immer kacke.
    Alles, was sie je gemacht haben, gab es anderswo schon besser.
    Eine Handvoll guter Songs. Das war‘s.
    Live kaum zu ertragen. Mehr Posen als die Foo Fighters, die das aber wohl bewusst tun, muss man auch erstmal schaffen.

    • Vor 4 Jahren

      Fuckin' Posers, wobei die Live-Poserei über die Jahre im expotentiellen Missverhältnis zu den wachsenden Fähigkeiten an den Instrumenten reifte!

    • Vor 4 Jahren

      Weiß gar nicht, wann ich die gesehen habe... 2011?
      Da Maybeshewill Support waren und ich in erster Linie wegen denen hinging, war der Abend passabel.
      Soweit ich mich erinnern kann, haben wir LDC nicht bis zum Schluss geschaut.
      Damals war das „Post Rock für Leute, die sonst keinen Post Rock hören“.
      Aber auch mit Veränderung des Sounds blieb es danach halt unterdurchschnittlich.

    • Vor 4 Jahren

      eine Handvoll guter Songs auf einem Album ist heutzutage auch eher die Seltenheit.