23. Oktober 2018
"Pop-Hörer sehnen sich nach Innovation"
Interview geführt von Yannik GölzVier Jahre seit dem Riesenerfolg von "Lean On" mit Major Lazer und DJ Snake steht Sängerin MØ am Anfang einer Neuerfindung. Mit ihrem neuen Album "Forever Neverland" sortiert sie ihre Einflüsse.
Auch wenn schon vier Jahre seit ihrem Debüt "No Mythologies To Follow" vergangen sind, gab es in den vergangenen Jahren eigentlich keinen Moment, in dem es so wirklich still um die dänische Sängerin MØ war. Sie arbeitete nicht nur mit Produzenten von Diplo über Cashmere Cat bis SOPHIE zusammen, sondern veröffentlichte auch einen konstanten Strom an eigenen Singles. Im Hotel Zoo in Berlin sprachen wir über Stilfindung, Nostalgie und die Veränderung von Popmusik.
Auf deinem neuen Album "Forever Neverland" deckst du auf mehreren Songs das Thema der Nostalgie ab, womit du einen Faden aufgreifst, der schon auf der "When I Was Young"-EP zu spüren war. Nostalgie scheint ja von Frank Ocean bis zu Charli XCX und Troye Sivan in den letzten Jahren der Popmusik spürbar prominenter geworden zu sein. Warum?
MØ: Für mich ist es so, dass ich einen großen Teil meiner Inspiration in Ereignissen der Vergangenheit gefunden habe, indem ich auf mein Leben zurückblicke. Weißt du, es ist eben eine angenehme Perspektive, aus der es sich gut schreiben lässt. Ganz besonders auf diesem Album, das in einer seltsamen Zeit meines Lebens entstanden ist. Am Ende meiner Zwanziger, ich war viel auf Tour und weit weg von Dänemark. Da fühlt es sich behaglich an, sich ein wenig zu besinnen und auch solchen Gedanken Raum zu geben.
Gewissermaßen ist es aber ein Kurswechsel verglichen mit deinem Debüt "No Mythologies To Follow". Da schien deine Perspektive die Jugend noch sehr aktiv zu zelebrieren. Ist dieses Umdenken intuitiv passiert?
MØ: Ja, ich denke schon. Beim Entstehungsprozess von "No Mythologies To Follow" stand ich am Anfang meiner Zwanziger und habe versucht, meine Angst zu reflektieren, die der kommende Weg mir eingejagt hat. Ich hatte das Gefühl, wir leben sowieso alle in einer Zeit, in der es keine wirklichen Richtlinien gibt, wie man sein Leben gestaltet, jeder macht einfach – irgendwas, was auch immer! (gestikuliert, lacht). Und jetzt ist da dieses zweite Album, meine Zwanziger habe ich einigermaßen durchgestanden und ich kann auf den Weg zurückblicken. Und trotz aller Nostalgie ist die Angst ja immer noch da, weil die Zukunft keinen Deut klarer geworden ist. Weißt du, da wiederholt sich die Geschichte wohl einfach.
Wenn du schon von Geschichten sprichst: Wie verstehst du denn das "Neverland", nach dem du das neue Album benannt hast?
MØ: Naja, es ist eben erst einmal eine klare Referenz an das Peter Pan-Universum. Und das "Neverland" ist eben dieser imaginäre Ort fernab, an dem du niemals erwachsen wirst. Für mich repräsentiert das wohl am ehesten den Eskapismus. Wir leben in einer Zeit – oder vielleicht ist es ja auch nur die Umgebung, in der ich mich aufhalte – in der viele Menschen diese Tendenz entwickelt haben, sich wie Peter Pan zu verhalten. Niemand von uns hat wirklich ernste Lust darauf, erwachsen zu werden und diese Erwachsenen-Verantwortung zu übernehmen, ein wirklich ernstes, echtes Leben zu führen, weißt du? Und das ist offensichtlich ja auch keine wirklich gute Sache. Man wird langfristig nicht glücklich werden, wenn man seine Augen vor der Wirklichkeit verschließt. Aber gleichzeitig ist es nicht einfach, hinzunehmen, dass die Dinge sich eben verändern. Die Welt verändert sich, du veränderst dich. Ständig.
Das passt dann ja auch zu einer interessanten Eigenart des Albums: Egal, wie sehr es sich auf die Vergangenheit zu beziehen scheint, bleibt Flair, Sound und Produktion doch sehr zeitgemäß. War es eine bewusste Entscheidung, keine klaren Throwback-Elemente zu verwenden?
Ja, definitiv! Ich finde es ist immer so, dass du, wenn du Musik oder Kunst oder was auch immer in diese Richtung machst, es wichtig ist, dass du einen Fuß in der Gegenwart und im Zeitgenössischen hast, auch wenn du dich bewusst mit der Vergangenheit beschäftigst. Das ist vielleicht ein sinnvoller Weg, Dinge in Perspektive zu rücken und es gibt dem Ganzen einen irgendwie reflektierten Twist. Das ist vielleicht gerade die Magie. Ich wollte auf keinen Fall ein Retro-Album machen. Es muss irgendwie modern sein!
Du hast ja auch eine gute Umgebung, um modern zu sein, schließlich bist du mit ein paar der aufregendsten Gesichtern der Gegenwart verbunden. Du arbeitest mit Charli XCX, mit SOPHIE, mit Diplo. Was bewegt zur Zeit die Popmusik? Und wie fühlt sich diese Bewegung für dich an?
MØ: Die Menschen, die heute Pop hören, sehnen sich nach einer gewissen Innovation, wenn man das so sagen kann. Es ist natürlich sowieso beliebt, in der Popmusik hier und da Dinge aufzufrischen und Ideen auf den Kopf zu stellen, ein wenig an den Grenzen zu rütteln. Das ist natürlich etwas, das ich selbst absolut so unterschreiben würde und von dem ich hoffe, dass ich selbst meinen Beitrag dazu leiste. Ich habe immer gesagt, dass die beste Popmusik die ist, die den Hörer ein wenig herausfordert, aber eben gleichzeitig auch einladend und zugänglich bleibt, damit es eben kein exklusives Ding wird, sondern den Hörer einlädt, sich damit zu beschäftigen. Aber jede Herausforderung braucht auch eine gute Grundlage in der Persönlichkeit, damit es kein blödes Gimmick wird. Man sollte eben man selbst sein dabei und sich zeigen, auch wenn man sich dabei verwundbar macht.
Das passt ja eigentlich ganz gut in die kommerzielle Popmusik. Der konventionelle Popstar ist im Rückgang, Künstler wie du oder Charli, eine ALMA oder eine Dua Lipa haben es zur Nische erklärt, fast schon zu einer Art Untergrund-Ding.
MØ: Ja, das stimmt! Aber das sind ja auch alles Künstler, die ich selbst total gerne mag, also wird das wohl nicht die schlechteste Sache sein. Weißt du, ich denke, das ist alles irgendwie von selbst passiert. Ich liebe Popmusik von Herzen, aber über die Zeit meiner prägendsten Jugendjahre habe ich mich fast ausschließlich für alternative Musik, Punk und das musikalische Extrem begeistert. Ich hatte wirklich nie den Plan, dass ich mal ein reicher und großer und erfolgreicher Popstar sein würde, es war einfach immer eine natürliche Bewegung der Musik, wenn du verstehst, was ich meine.
Ich glaube schon. So wie du es beschreibst, wäre Popmusik da nicht auch eine Art "Neverland"?
MØ: Ja, nein, nein, ja ... (überlegt). Ich glaube, gewissermaßen ist es das. Kreativ sein, sich ausdrücken, kreativ sein, in diesem Prozess zu sein, das ist zwar alles ein unglaublich positiver Raum, aber vielleicht ist es auch die positivste Interpretation, die ich dem "Neverland" zugestehen würde. Es ist ein wirklich nettes "Neverland", verstehst du? Aber das Ding für mich ist eben so, dass mir die negative Implikation des Begriffes extrem wichtig ist. Es bedeutet nämlich auch, gewissermaßen festzustecken. Und da beißt es sich dann doch wieder. Kreativität sollte nie heißen, irgendwo festzustecken. Das heißt, meine utopischste Vorstellung von Kreativität, die auch in meiner Idee von Pop steckt, sollte auf keinen Fall mit einem "Neverland" einhergehen. Aber vielleicht bin das auch nur ich, ich weiß nicht. Ich hoffe, das ergibt alles Sinn.
"Sonic Youth war der Soundtrack meiner Jugend!"
Aber sprechen wir doch noch darüber, wie du an diesen Punkt gekommen bist. Dein erster musikalischer Anhaltspunkt in der Kindheit waren ja die Spice Girls, später hat es dich dann aber in den Punk verschlagen. Aus diesem Auge der Nostalgie heraus, wie würdest du den Soundtrack deiner Jugend beschreiben?
MØ: Da muss man auf jeden Fall ein bisschen differenzieren. Die Spice Girls, da war ich ja noch wirklich Kind. Wenn es um meine Jugend geht, um meine Teenagerzeit, da war es für mich eigentlich ausschließlich die alternative Musik. Mit dreizehn hat das angefangen, dass ich mich schwarz angezogen habe, mich zu lokalen Punk-Locations aufgemacht habe und mich erstmals wirklich mit Aktivismus und solchen Themen beschäftigt habe. Die größte Obsession, die ich in dieser Hinsicht hatte, das war bestimmt Sonic Youth. Sex Pistols, Mudhoney, Nirvana natürlich, vielleicht auch Black Flag. All diese Sachen fand ich faszinierend, aber ich glaube, Sonic Youth war definitiv der Soundtrack meiner Jugend.
Auch wenn du diesen Acts nicht unbedingt direkten Tribut in der Musik zollst, gibt es doch ein paar Anhaltspunkte, an denen diese Prägung durchschimmern könnte. "Blur" auf dem neuen Album hat von der Akkord-Struktur und der Instrumentierung her vielleicht einen Grunge-Touch, oder?
MØ: Ja, ein bisschen. Wahrscheinlich ist das passiert, als wir uns dazu entschieden haben, die Gitarre in dieser Form als tragendes Instrument zu verwenden. Es ist von da an sehr natürlich zusammengekommen. Aber was Referenzen betrifft: Ich hasse es, wenn Musik sich selbst zu wörtlich nimmt. Wenn man direkt ableiten kann, dass dieser Song auf diesen Song anspielt oder dieses Element dort abgerufen wird. Ich denke, als ich mich in dieser alternativen Szene bewegt und diese Ideen aufgenommen habe, war das so ein integraler Teil meines Erwachsenwerdens, dass es bestimmt immer einen gewissen Einfluss haben wird, der irgendwo in meinem kreativen Schaffen Ausdruck findet.
Es formt ja auch die Vorstellung von Musik.
MØ: Genau. Es ist deswegen vermutlich auch schwierig, mit dem Finger darauf zu zeigen, was diesen Einfluss jetzt ausmacht oder nicht. Im Grunde ist er einfach da.
Gab es ein konkretes musikalisches Ziel, dass du dir mit "Forever Neverland" gesteckt hast?
MØ: Am Anfang hatte ich nicht einmal einen konkreten Sound. Ich wusste zwar, was ich mag und was nicht, aber es hat wirklich bis 2017 gedauert, bis ich – zum Teil auch dank meines in dieser Zeit gefundenen exekutiven Produzenten – wirklich realisiert habe, was sich als "mein Sound" herauskristallisiert hat. Da hat er mir auf jeden Fall sehr geholfen. Das Songwriting, die lyrischen Themen und Ideen kamen sehr natürlich zu mir, was mir sehr wichtig ist. Es muss eine lebendige Leidenschaft sein, etwas auszudrücken.
"In L.A. befindet sich der Spotify-Top 50-Hotspot"
Ein großer Teil deiner Entwicklung lag im Verständnis, dass gute Musik oft eine Sache des Teamworks ist. Kannst du vielleicht ein wenig ausführen, wie sich dein Prozess zwischen deinen beiden Alben konkret verändert hat?
MØ: Im Grunde hast du es schon komplett vorweggenommen. Zu den "No Mythologies To Follow"-Zeiten, gab es niemanden außer mir. Ich bin dagesessen, habe die Songs geschrieben und mein damaliger Produzent Ronny hat die komplette Musik dazu gemacht. Das war's eigentlich auch schon. An diesem Album habe ich vier Jahre lang gearbeitet und war in vielen Studios, in vielen Sessions mit den verschiedensten Produzenten und Songwritern. Ich habe selbst geschrieben, auf einem Beat, am Klavier, habe mit fünf Leuten gleichzeitig geschrieben, mal mit vier, mal mit drei. Es war ein ewiger Prozess, diese ganzen Ideen und Konzepte zu verarbeiten, quasi als mein eigener Regisseur zu agieren. Die Dinge zu bearbeiten, sie in neue Form zu bringen. Da waren so viele Leute involviert, manche vielleicht auch nur für ganz kleine Elemente. Witzigerweise waren es am Ende dann doch nur ich und ein neuer Produzent namens Stint, die alles wirklich zusammengebaut haben, damit es ein kohärentes Produkt wird.
Es fühlt sich in der jetzigen Form tatsächlich sehr rund an.
MØ: Das meine ich. Ende 2017 hatte ich all diese Songs rumliegen, ein Draft. Ich bin mit Stint ins Studio gegangen und gemeinsam haben wir dafür gesorgt, dass alles sinnvoll zusammenpasst.
Gibt es denn einen Favorit auf dem neuen Album?
MØ: Ach, naja. Sie sind inzwischen alle meine Babies und es verändert sich bestimmt jeden Tag, wenn ich einen Favoriten nennen würde. Aber einer meiner Lieblingssongs ist der Song namens "Trying To Be Good", einfach nur, weil er wirklich unglaublich persönlich ist. Ich habe diesen Song komplett alleine geschrieben, im Haus meiner Eltern in Dänemark, ich war krank und es ist eine verdammte Menge Zeug in der Welt passiert. Ich musste ein paar Konzerte absagen wegen meiner Grippe und ich war wirklich in diesem Oh-Fuck-Zustand. Und dann habe ich diesen Song geschrieben und es war eine Erleichterung, fast ein bisschen Therapie, das von der Seele zu schaffen.
Wenn du schon davon sprichst, bei deinen Eltern in Dänemark zu sein: Ich kann mir vorstellen, dass das Tourleben und die internationale Musikindustrie dir einiges abverlangen. Fällt es dir schwer, überhaupt noch eine Art Lokalität für dich selbst auszumachen?
MØ: Hmm, also an sich: ja! Aber gleichzeitig weiß ich auch nicht so recht, ob das wirklich stimmt. Ich habe mich selbst und mein Wesen nicht sehr verändert, auch wenn ich die ganze Zeit auf Reisen bin, manche würden mich vielleicht ja auch "berühmt" nennen. Aber ich denke, ich schaffe es schon, mich nicht zu verzetteln. Es ist natürlich schwer, mit diesem Lebensstil den Kopf nicht zu verlieren, gerade weil er so anders ist als der normale Alltag. Es ist daher wichtig, mit meinen alten Freunden und meiner Familie, mit meinem Bruder in Kontakt zu bleiben. Die Leute in meinem Leben zu lassen, die mich kannten, bevor ich dieses Monster wurde (lacht).
Eine Sache, die ich mich schon lange frage: Wie sehr ist Popmusik inzwischen eigentlich wirklich globalisiert? Wenn es dich von London nach Los Angeles nach New York verschlägt: Gibt es noch so etwas wie Szenen? Haben Städte oder Länder ihre eigenen Sounds und Vibes? Oder ist es einfach alles überall und ständig?
MØ: Das ist eine gute Frage. Ich würde sagen, dass es inzwischen fast durch die Bank global abläuft. Andererseits bringt ein Produzent in einem Studio in London eine andere Palette an Referenzen mit als einer in Los Angeles. In L.A. befindet sich gerade das totale Zentrum dieses Spotify-Top 50-Sounds, das ist ein totaler Hotspot für Musiker aller Art. Da hat die Stadt definitiv ihren eigenen Sound und ihr Eigenleben. In London oder New York verwenden Leute, die zwar ähnliche Sachen hören und mitbekommen, trotzdem andere Strukturen und Leitfäden. Dasselbe gilt auch für Skandinavien! In Stockholm wird so viel Musik produziert, die Stadt hat einfach ihren Skandi-Sound. Es gibt also schon noch kleine Nuancen zwischen den Orten, an denen Musik entsteht. Auch wenn Pop natürlich ein absolut globales Ding ist.
Das ergibt Sinn. Dann sind wir auch schon fast am Ende. Eine Frage brennt mir noch unter den Nägeln: Haben die Menschen nach all den Jahren irgendwann angefangen, deinen Namen richtig auszusprechen?
MØ: (lacht) Nein. Und sie werden es auch nie tun. Und das ist in Ordnung. Ich habe ja auch einen dänischen Namen gewählt, den ein Mensch außerhalb von Dänemark auf keinen Fall aussprechen kann. Also was soll's!
Nachtrag des Autors: Das dänische durchgestrichene O wird ein bisschen wie das deutsche Ö ausgesprochen, aber mehr in Richtung eines "i"s am Ende, also ungefähr "Möi".
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