2. Januar 2013

"Alle hatten Angst"

Interview geführt von

Sie hören einfach nicht auf: 33 Jahre nach dem Klassiker-Debüt "One Step Beyond" haben die Skapopper auch wieder Spaß im Studio. Mit "Oui Oui Si Si Ja Ja Da Da" erschien gerade wieder ein neues Studioalbum.Eins kann man sagen: Madness tragen ihren Namen zu Recht. Ursprünglich ist unser Telefonat mit dem zweiten Sänger Chas Smash nachmittags angesetzt, dann wird es vorgezogen. Schließlich trudelt eine Nummer vom Hotel ein, allerdings die der Rezeption. Die Zimmernummer konnte die Managerin auf die Schnelle nicht eruieren. Drei Stunden vor dem avisierten Interview: Die Managerin glaubt, er sei in Zimmer 15. Man könne sich ja mal durchstellen lassen. Smash sei als Cathal Smythe eingecheckt, sein Geburtsname.

Ginge es auch schon 20 Minuten früher, wird gefragt. Ja klar. Leider hätte ich nun aber doch nur 15 Minuten Zeit, da Cathal danach direkt zur Probe muss. Ja klar. Dann ändert sich das Hotel noch einmal. Ansonsten bleibt alles gleich: Bitte in Zimmer 15 durchstellen lassen. Ich wähle die Nummer.

Hello, könnten Sie mich bitte mit Zimmer 15 verbinden, Mr. Cathal Smythe?

Ja, hier Chas Smash, verbinden unnötig.

Oh. Hi Chas. Schön, dass es mit dem Interview noch geklappt hat.

Gerne, wo bist du denn?

In Konstanz, das ist in Süddeutschland, direkt am Bodensee nahe Zürich.

Okay. Ist da Garmisch-Partenkirchen in der Nähe?

Ja, kann man so sagen. Bekanntes Skigebiet.

Yeah, in den 60ern war ich da ein paar Mal. Zugspitze und so, tolle Gegend. Mein Vater hat mir und meinem Bruder damals Lederhosen angezogen, ich war damals acht und er sechs, und alle dachten, wir seien Deutsche, haha.

Das ist jetzt über 40 Jahre her. Seither hast du mit Madness eine beeindruckende Pop-Karriere gemacht. Wachst du eigentlich immer noch manchmal morgens auf und denkst, du hättest alles nur geträumt und musst dir jetzt eine richtige Arbeit suchen?

Absolutely. Gerade gestern habe ich daran gedacht, dass ich als Kind immer Dichter werden wollte. Ich kann also ganz zufrieden sein mit meinem Werdegang. Doch, es fühlt sich sehr gut an.

Erinnerst du dich an eine Zeit, als sich die Arbeit mit Madness wie ein normaler Job anfühlte?

Da muss ich schon ein bisschen nachdenken, aber ja: Das muss so um 1984 herum gewesen sein. Wir haben drei Alben relativ schnell hintereinander veröffentlicht, waren dauernd auf Tour und jeder von uns fühlte sich allein, weil Freunde und Familie so weit weg waren. Damals hatten wir das Gefühl, wir würden alles nur noch für die Plattenfirma machen. Die Lust an der Sache ging langsam flöten. Aber das ist lange her. Jetzt als älterer, weiser Mann genieße ich das Privileg, das wir mit unserer Band haben, natürlich viel mehr.

Vor drei Jahren erschien euer letztes Album "The Liberty Of Norton Folgate", eine Art Konzeptalbum über eure Heimat London. Und eigentlich schien das so etwas wie das perfekte letzte Studioalbum für die Londoner Band Madness zu sein. Hattest du dieses Gefühl auch?

"Liberty Of Norton Folgate" fühlte sich für uns alle vor allem wie ein Neuanfang an. So gesehen hatten wir alle eher die Befürchtung, dass die neue Platte jetzt unser schwieriges zweites Album würde, aber zum Glück ging es uns total locker von der Hand.

Damals habe ich Suggs und Woody zum Interview getroffen, als ihr auf der Londoner Regent Street ein Konzert gegeben habt. Als ich sie auf einige englische Presseartikel hinwies, die "Norton Folgate" mit "Sgt. Pepper's" verglichen haben, reagierten sie eher zerknirscht, denn dies würde ja bedeuten, dass ihr noch ein "White Album" und ein "Abbey Road" abliefern müsst.

Haha, ja, ich hörte von diesen Vergleichen. Ich habe damals gleich gesagt, unser nächstes Album muss dann "Pet Sounds" sein. Ich weiß nicht, ob es geklappt hat, aber man sollte sich immer Ziele setzen.

Du würdest "Pet Sounds" also dem "White Album" vorziehen?

Ähm, vielleicht (lacht). Ich meine, unser Auftritt auf dem Dach des Buckingham Palasts in diesem Sommer war ja in gewisser Weise unsere Version des Auftritts auf dem Dach von Apple Records. Gleichzeitig würde das aber bedeuten, dass wir jetzt nicht auf Tour gehen könnten, sondern uns auflösen müssten.

Bleiben wir doch bei dem Queen-Jubiläum: Ich habe gelesen, dass eines deiner Highlights der Moment war, als deine Tochter Tom Hanks getrofffen hat.

Yeah, ich habe sie einander vorgestellt. Meine Tochter ist Schauspielerin und er ist einfach ein unglaublich charmanter Kerl. Sie sprachen ein wenig und er motivierte sie und gab ihr Tipps. Meine Tochter lief rot an, als er vor ihr stand, was ich ehrlich gesagt noch nie an ihr gesehen habe. Ich sagte: 'Was ist los? Du wirst rot', und sie 'Dad, es ist Tom Hanks.' Ich muss wirklich sagen, dass ich beeindruckt bin von seiner offenen, liebevollen Art.

Was war sonst noch beeindruckend an diesem sehr besonderen Tag?

Mit einer Kippe aus dem Fenster des Buckingham Palasts zu schauen, die Leute beim Shoppen zu beobachten. Und auch wenn es klischeehaft klingt, aber ich musste in dem Moment an meinen Vater denken, was hätte er wohl gesagt, wenn er dabei gewesen wäre? Der ganze Tag war irreal, wie eine wundervolle Betäubung. Als würde man in Slow-Motion durch das Leben eines anderen gehen. Und man fühlt sich schon ein bisschen wie der Großvater, der im Eck sitzt und alles beobachtet. Die Tage der Rebellion sind gezählt, so viel ist klar.

Du kennst ja sicher die Geschichten über junge Bands, die es nach 3 oder 4 Jahren nicht mal mehr im selben Zimmer aushalten. Sag doch mal: Wie steht man so eine Karriere in einer Band denn 36 Jahre lang durch?

Da muss man schon ganz eng miteinander verbandelt sein. Neulich war ich mit meiner Tochter bei den Q Awards und habe Plan B einen Preis überreicht. Kurz davor waren Underworld dran und sprachen über ihre gemeinsame Zeit, wie sie die Probleme, die sie hatten, lösen konnten und wie sie ihre schwierigen Phasen überwunden haben. Danach kamen Muse raus und erzählten praktisch das Gleiche und das berührte mich dann irgendwie.

Denn das sind Künstler, die es geschafft haben, ihre riesigen Egos in den Griff zu bekommen. Um auf deine Frage zurück zu kommen: Ich denke, das Rezept ist, einfach immer weiter zu machen. Nicht wegen Lappalien alles hinwerfen. Und natürlich geht es nicht ohne Respekt für den anderen.

In den 80ern hattet ihr vor allem im Ausland dieses Party-Image der lustigen Nutty Boys, die am besten gleich morgens um 8 Witze reißen sollten. Erinnerst du dich?

Ja sicher, die Leute haben das nicht alle verstanden. Es ist wie bei einem Clown: Wenn er seine Sache gut macht, sieht es ganz leicht aus, aber du musst verdammt gut sein, damit es so aussieht. Wir haben uns von Anfang an fröhlich und ungezwungen präsentiert. Unsere Kernmotivation für gute Texte hat diese Darstellung jedoch nie getrübt. Unsere Arbeit war uns immer sehr ernst. Aber nach außen hängen wir deswegen nicht die Schwermütigen raus.

Aber das hat sicher viele Leute verwirrt. Das Schlimmste waren immer die Bands, die uns Demos geschickt haben im Glauben, sie hätten einen Madness-Song geschrieben. Die Songs waren immer furchtbar. Die Balance zwischen Intensität, Pathos und Melodien hat immer gefehlt.

Auf "Oui Oui Si Si Ja Ja Da Da" ist dein Song "Death Of A Rude Boy" vertreten - ein Abgesang auf die alten Zeiten?

Es geht ein bisschen um die Anfänge, um meine Einflüsse und ein bisschen um die Gegenwart. Ich bin älter geworden und diese Zeit liegt hinter mir. Ich meine, neulich auf dem Buckingham Palast stand kein Rude Boy, sondern ein britischer Bürger.

Aus dem Songtitel spricht aber quasi, dass es Leute gibt, die von dir immer noch erwarten, der Rude Boy von Madness zu sein.

Natürlich und es gibt ja schon dieses Element in mir, das dieser Kerl ist. Ich höre immer noch gerne Ska und rauche gerne eine Tüte. Was mein Rebellentum angeht, naja, ich bin politisch jedenfalls immer noch eher links als rechts, eher liberal als konservativ. In gewissen Dingen habe ich mir für meine Begriffe eine subversive Haltung bewahrt, in der ich mich ein wenig rebellisch fühlen kann. Es kommt nur ein bisschen wohlerzogener rüber als früher.

"Ich könnte bei Madness ersetzt werden"

Du ziehst Konzerte der Studioarbeit vor. Welche Songs spielst du live am liebsten?

"Never Knew Your Name" vom neuen Album kommt super rüber, die Melodie ist einfach enorm kräftig. "Leon" ist auch klasse. Am Schluss eines Konzerts geht mir "It Must Be Love" sehr ans Herz, aber auch "Our House" kickt mich immer noch, einfach weil es um mein Zuhause geht und um den Ort, an dem ich aufgewachsen bin. Letztes Jahr gab es im britischen Fernsehen eine Werbung, in der ein Typ nur den Text spricht, also ohne Musik, und mir kamen zuhause buchstäblich die Tränen. Es war einfach eine sehr poetische und warmherzige Umsetzung.

Es geht immer wieder das Gerücht, in eurer Band hätten alle Mitglieder ein Double, so dass Madness praktisch immer auf Tour gehen können, egal ob mal einer fehlt.

Haha, nein, das ist Unfug. Wir hatten mal Ersatz dabei für Lee, Mark, Chris und Mike. Suggs zu ersetzen würde ziemlich schwierig werden, und was mich betrifft, naja gut, ich könnte ersetzt werden, da muss man ehrlich bleiben. Aber das ist ja bislang noch nicht passiert. Wenn ich nicht zu einem Konzert gekommen bin, hat man wohl keinen Ersatz gefunden.

Diese Double-Geschichte ging los, als Mike beschloss, immer im August auf buddhistische Pilgerreise zu gehen. Aber für uns ist das jetzt keine große Sache, auch wenn es keine ideale Situation sein mag. Ich sehe es so, dass die Sippe, dieser ganze Familienstrang, auch mal ohne ein Mitglied zusammen weiter macht. Wir sind mehr als nur eine Band. Mittlerweile sind schon Enkel in die Sache involviert. Wenn man das so hört, sind wir schon auf eine ziemlich einzigartige Weise schräg.

Ihr wart ja in den 80er Jahren öfter bei "Top Of The Pops" als manch andere britische Popband. In welchem Ausmaß warst du geschockt, als sich heraus stellte, dass dieser scheinbar harmlose, exzentrische BBC-Moderator Jimmy Savile ein Kinderschänder gewesen ist?

Überhaupt nicht. Ehrlich gesagt: Es war ein offenes Geheimnis, dass er eine sehr seltsame Type war. Es gab seit Ewigkeiten Gerüchte. Der Comedian Jerry Sadowitz hat bereits in den 80ern Savile-Sketche gebracht, die unter dem Strich nichts anderes sagen, als dass er ein Pädophiler ist. Du kannst sie dir auf Youtube anschauen.

Es ist eine Schande, dass diese Kultur des Schweigens bis heute so ausgeprägt ist. England ist ein gefährlicher Ort, wenn es darum geht, jemanden öffentlich zu diffamieren. Denn nur deshalb konnte diese Savile-Geschichte so lange geheim bleiben. Alle hatten Angst davor, in die Öffentlichkeit zu gehen.

Savile war in England ja auch eine Art Heiliger, eine nationale Legende.

Das kommt noch dazu. Er war einer der ersten DJs in den 70ern. Wenn man sich diese Zeit aus heutiger Sicht betrachtet, muss man sagen, dass da einiges falsch gelaufen ist. Rassismus, Sexismus, Frauenfeindlichkeit: Mir kommen die 70er geradezu prähistorisch vor.

Und wie habt ihr Savile erlebt, als ihr in 'Top Of The Pops' aufgetreten seid?

Wir waren nicht nur da, auch in seiner Kindershow "Jim'll fix it". Wie habe ich ihn erlebt? Du musst wissen, in den 70ern hatten fast alle DJs einen an der Klatsche. Das waren allesamt glatte, ölige Typen. Wenn man die sah, ging einem als erstes durch den Kopf: Wo zur Hölle bist du denn groß geworden? Das war einfach so.

"Jeder Song klingt nach Madness, sobald wir ihn spielen"

Du hast vorhin Youtube erwähnt: Was ist denn der peinlichste Clip, den es von dir online gibt?

Ganz klar: The Fink Brothers. Suggs und ich waren große Fans der "2000 AD" und nahmen Mitte der 80er eine Spaßplatte zu Ehren des Comics auf. Schau es dir auf Youtube an, Fink Brothers, F-I-N-K. Grottenschlecht und superpeinlich.

Auf der neuen Scheibe heißt es an einer Stelle: "It was very late at the discotheque." Werden hier Erfahrungen eurer Kinder verarbeitet?

Das ist einer von Mikes Songs, wobei ich anmerken würde, dass Mike noch nie eine Disco von innen gesehen hat. Meine Kinder gehen ins Amnesia, ins Pacha oder ins Space, von mir kann die Zeile also auch nicht stammen. Die Melodie ist großartig und der Text, du weißt ja, wir haben sieben Leute im Studio. Da muss man Kompromisse machen.

Nun habt ihr ja mal mit neuen Produzenten gearbeitet und trotzdem ist euer Signature-Sound unzerstörbar. Woran liegts?

Tja leider - oder auch: zum Glück - klingt ein Song immer nach Madness, sobald wir ihn spielen. Selbst Produzenten können das nicht ändern. Es war eine interessante Erfahrung, einmal nicht mit Clive Langer zu arbeiten, rückblickend muss ich aber sagen: Mit einem einzelnen Produzenten macht es mehr Sinn.

Aber zufrieden bist du schon mit dem Ergebnis ...?

Oh ja, so gut das eben möglich ist. Lass es mich so erklären: Stephen Street änderte an einem meiner Songs, "How Can I Tell You", etwas an den Bläsern. Aber mir gefiel es nicht, also machte ich es rückgängig, spielte es der Band vor und die fand meine Version auch besser. Was ich damit sagen will: Es ist schwierig, jemanden von außen einzuladen, ihm freie Hand zu lassen und ganz tief drinnen zu spüren, dass man eigentlich selbst genau weiß, wie etwas zu klingen hat.

Anfang der 90er warst du es, der die ganze Sippe zu einem Madstock-Reunion-Open Air überredet hat, das ihr dann gleich zwei Mal hintereinander ausverkauft habt. Du bist in dem Fall schuld an der späten Karriere der Band, richtig?

Absolutely. Ich löste die goldenen Handschellen meiner dreijährigen Bürotätigkeit beim Go Disc-Label und drängte auf die Reunion, weil die Band mir so am Herzen lag. Ich bin froh, diesen Schritt getan zu haben und die anderen hoffentlich auch, obwohl es wahrscheinlich niemand öffentlich zugeben würde. Aber schau uns an: Hier stehen wir 20 Jahre später, als eine Art Unikat britischer Kultur. Auch wenn wir die Welt nicht im Sturm erobert konnten, haben wir unseren Platz jetzt gefunden.

Gab es noch irgendeinen Auslöser für die Reunion damals? Nostalgie-Anflüge spätabends im Pub?

Nein, aber ich hörte damals zufällig von dem Plan einer "Greatest Hits"-Veröffentlichung und hatte sofort das Gefühl: Das ist der richtige Moment. Jetzt könnten wir zurück auf die Bühne. Wenn es jetzt nicht klappt, dann nie mehr.

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Madness

Es sieht zunächst wie eine ganz normale Party aus, die am Abend des 30. Juni 1977 im Norden Londons stattfindet. Ein paar Jungs unter 20 laden gleichaltrige …

Noch keine Kommentare