laut.de-Kritik

Zukunftsvisionen aus Zucker und Zynismus.

Review von

Als das Synth-Pop-Duo Magdalena Bay 2021 das Album "Mercurial World" heraus brachte, war ich für 15 Minuten extrem involviert. Ich dachte mir: Wow, oha, das ist ja wie Grimes nur ohne den Cringe-Faktor! Das muss die beste Sache ever sein! Die glossy Texturen, die immens nach vorne gelebte Experimentierfreude, die generelle Alien-ness an dem Projekt hat Spaß gemacht und bleibt bis heute bestehen. Nur habe ich irgendwann festgestellt, dass eine Grimes ohne den Cringe mir persönlich fast nichts wert ist. Magdalena Bay waren also nicht sofort zu persönlichen Favoriten avanciert, aber sie blieben zu beobachten.

Mit letzterer Einschätzung blieb ich wohl nicht allein. Ihr neues Album "Imaginal Disk" macht gerade die immens große Runde in Indie-Pop-Kreisen. So ein Heilsbringer-Gefühl gab es schon lange nicht mehr. Album des Jahres, nein, Album des Jahrzehnts, was sie da aufgekocht haben: Ein einstündiges, bis ins Blut cineastisches, extrem gut zusammengesetztes Sci-Fi-Opus, das in den richtigen Momenten DIY-absurd komisch und in den richtigen Momenten ernst und perfekt klingt. Es ist ohne Frage eines der beeindruckendsten Alben des Jahres, eines, das ehrlich vorwärts denkt. Aber ein bisschen bleibt mir auch hier das Gefühl zurück, dass das alles ein bisschen mehr Flash als Fleisch ist.

Nehmen wir erstmal Bestand auf: Was ist eine "Imaginal Disk"? In einem losen Narrativ erzählt das Album eine Doppelgänger-Geschichte, ein Neu-Programmiert-Werden, ein Zu-Sich-Finden, auf dem neue und alte Erfahrungen vom Lieben und Geliebtwerden im Mahlstrom von Konformität und sozialer Prägung kollidieren. Das wäre zumindest meine Interpretation, denn so cineastisch das Projekt auch ist, erzählt es sich doch mehr über Vibes als über konkretes Storytelling. Das ist auch eine ehrlich gute Entscheidung, denn so bleibt zwar ein bisschen Freiraum, so richtig in das Album und seine Lyrics einzutauchen, sicher hier und da auch ein klein bisschen Worldbuilding und Verwobenheit zu entdecken.

Aber wichtig ist weniger, dass das Album wirklich eine von a bis z kohärente Welt am Reißbrett ausgeheckt hat, als dass es sich definitiv so anfühlt, als würde man eine eigene Welt betreten. Nicht nur klingt dieses Album von der ersten bis zur letzten Sekunde opulent, es bewegt sich auch lebendig und dynamisch, wie man es von Synth-Pop schon öfter anskizziert sehen hat, aber noch nie so konsequent durchdacht.

Eine der beeindruckendsten Facetten ist definitiv, wie die Songs in ihren Einstiegen und Ausstiegen morphen, kleine Leitmotive (ein Synth-Arpeggio, ein Echo, ein Krisseln) einbauen und so wirklich das Gefühl von Album-Arbeit aufkommen lassen. Quasi jeder Song geht durch Stadien, durch eine eigene, kleine Dramaturgie, eine Metamorphose, wenn man so will. Transformation ist ein klares Thema des Albums, sei es im Sinne vom Verändern, vom Verändertwerden oder vom Aufwachsen generell. Sehr cool, dass die Tracks diesen Impuls spiegeln. Es ist definitiv ein Album, in dem man sich verlieren kann - trotz der Stunde Laufzeit stellt sich garantiert keine Langeweile ein, weil das Album vor Ideen geradezu sprüht.

Irgendwann ist diese Metamorphose allerdings so konsequent Methode des Albums geworden, dass manche Tracks ein bisschen zu sehr auf diesen Boom-Moment zu warten scheinen. Wenn jeder einzelne Track einem ähnlichen, experimentellen Crescendo folgt, dann mindert das irgendwann den Wert des Experimentierens. Vor allem, wenn bei manchen Tracks doch das Gefühl aufkommt, dass da ein gar nicht so fulminanter Kern im Zentrum steht, der dann graduell mit Bumm-Bumm-Glitzer-Glitzer auf Übergröße gepimpt wird. "Tunnel Vision" ist so ein Beispiel, bei dem nicht ganz klar wird, warum der halbe Track dudeln muss, bevor das offensichtlich zentrale Element einschlagen darf. Auch bei anderen Tracks bleibt beim wiederholten Hören das Gefühl zurück, dass die Kernelemente gar nicht so krass beeindrucken, die den Song aber tragen müssen. Der Synth-Funk von "Love Is Everywhere" fühlt sich zahm an. Die blocky Vaporwave von "Love, Sex" tuckert gefällig. "The Ballad Of Matt & Mica" muss sich den nicht von Anfang an aufkommenden Pathos einmal mehr mit einem an dem Punkt etwas übernutzten Crescendo zurückholen.

Tatsächlich scheinen mir die besten Tracks oft witzigerweise die zu sein, die am klarsten nach vorne arbeiten. "Image" ist ein kleines Meisterstück, das die Form Pop meisterhaft nutzt. Tenenbaums Vocals klingen, als würde sie ihren eigenen Fernsehkanal für Propaganda betreiben, aber die Bassline und die krisselnden Synthesizer heizen so sehr an, dass die Propaganda mitreißt. Wenn man sich schon über eine große, robotische Übermacht lustig machen möchte, die all die Menschen in ihren Bann zieht, dann muss diese Übermacht sexy genug sein, dass man den Leuten abnimmt, davon übernommen zu werden. "Image" lässt Dystopia wie eine unwiderstehliche Party aussehen - so muss das laufen im Sci-Fi-Thriller! Macht es den Held*innen nicht zu leicht! Darüberhinaus: "Vampire In The Corner" ist zuckersüß und "Cry For Me" reißt am Ende noch einmal das Haus ab.

Es sind diese Momente, die das Album am Ende immer noch großartig sein lassen. Vielleicht ist es der elende Contrarian in mir, aber in den letzten Wochen, in denen "Imaginal Disk" zum Mond und zurück gehypet wurde, hat sich dieser nervig-unsympathische Verdacht in mir geregt, ob ich das Ding nicht ein kleines Mü overrated finde. Und da ist eine Hirnströmung, die sagt, dass all der Feenstaub, all das Kino nicht überdeckt, dass manche Momente auf diesem Album ganz Ornament sind und weniger Substanz. Aber es sind Tracks wie "Image" oder "Cry For Me", die unwiderstehlichen Grooves und Singles, die mich schlussendlich doch wieder zum Album hingezogen haben.

Ein Vergleichspunkt, der bisher noch wenig bemüht wurde, der aber in meinen Augen nicht unangemessen ist, ist Janelle Monaes "The Archandroid". Der hat 2010 Leute auch extrem mit seiner Konzepthaftigkeit beeindruckt, dann aber über die Jahre ein wenig an Strahlkraft eingebüßt. Tatsächlich sind es heute vor allem die Singles und die wirklich coolen Funk-Basslines, die das Album in seinem Klassiker-Status halten. Und ein bisschen so wird es, glaube ich, auch "Imaginal Disk" gehen. Je mehr Indie-Pop andere Acts mit dieser Aura an Proginess hervorbringen wird, desto mehr werden all die Lichteffekte und all das Geglitzer in den Hintergrund, vielleicht sogar ins Klischeehafte zurücktreten. So ging das allen musikalischen Bewegungen, die mit Ambition und Progressivität beeindrucken wollten: Den Prog-Rockern, den neuen Psychedelikern wie Tame Impala, den Mike Dean-Trappern wie Travis Scott. Mit einem cineastischen, konzeptuellen Album beeindrucken, das hilft momentan - aber es müssen schon die musikalischen Momente zurückbleiben, die wirklich für sich stehen können. "Imaginal Disk" hat in diesem Sinne Substanz. Gut vorstellbar, dass es wirklich einen definitiven Moment für die Ambitioniertheit von Pop markieren wird.

Trackliste

  1. 1. She Looked Like Me!
  2. 2. Killing Time
  3. 3. True Blue Interlude
  4. 4. Image
  5. 5. Death & Romance
  6. 6. Fear, Sex
  7. 7. Vampire In The Corner
  8. 8. Watching T.V.
  9. 9. Tunnel Vision
  10. 10. Love Is Everywhere
  11. 11. Feeling DiskInserted?
  12. 12. That's My Floor
  13. 13. Cry For Me
  14. 14. Angel On A Satellite
  15. 15. The Ballad Of Matt & Mica

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