laut.de-Kritik
Mehr Bühnenpräsenz hat nur noch Nina Simone besessen.
Review von Toni HennigDie in dem kleinen Bundesstaat New Jersey geborene Sängerin, Songwriterin, Pianistin und Gitarristin Melody Gardot veröffentlicht in den letzten zehn Jahren vier erfolgreiche Studio-Alben und erhält 2010 den Jazz-Echo in der Kategorie Sängerin des Jahres international. Nun erscheint mit "Live In Europe" die erste Live-Best-Of der 33-Jährigen.
Dabei umfasst die Doppel-CD oder Dreier-LP erlesene Aufnahmen von ihren Auftritten in Zürich, Wien, Lissabon, Barcelona, Amsterdam, Utrecht, Frankfurt, London und Paris aus den letzten fünf Jahren. Die US-Amerikanerin widmet diese Konzertplatte, die sie persönlich zusammengestellt hat, dem "Gefühl, der Nostalgie und der Erinnerung", sagt sie in einem Interview. Sie betont, es gehe ihr bei der Song-Auswahl nicht um "Makellosigkeit". So hat sie vor allem die Momente für die Ewigkeit festhalten wollen, mit denen sie etwas Einzigartiges verbindet.
Besonders beeindruckte sie die "Euphorie des Publikums" während ihres Auftrittes im Londoner Palladium vor zwei Jahren, erzählt sie. Daher beginnt die zweite CD mit Mitschnitten dieses Abends. In "(Monologue) Special Spot" lacht die Musikerin über sich selbst, als sie ihre Gitarre auf der Bühne stimmt. Man hört danach in "Baby I'm A Fool" schwere Blues-Akkorde und in "Les Etoiles" lebensbejahende Chanson-Klänge. Der spontane Charakter dieser Show ließ die Chanteuse daran zurückdenken, wie sie mit sechzehn in Bars ihr Taschengeld aufbesserte. Damals coverte sie noch Duke Ellington oder Radiohead. Mittlerweile schöpft sie aus einem umfangreichen Repertoire an Eigenkompositionen.
Somit hat sie bei der Zusammenstellung des Albums die leichtfüßigen Vocal-Jazz-Nummern ihrer in Deutschland mit Platin ausgezeichneten Erfolgsscheibe "My One And Only Thrill" genauso berücksichtigt wie die von Samba- und Bossa Nova-Rhythmen geprägten Tracks des Nachfolgers "The Absence" und die erdigen Blues- und Singer/Songwriter-Stücke ihrer letzten Studioplatte "Currency Of Man". Lediglich auf die subtilen Songs ihrer ersten EP "Some Lessons: The Bedroom Sessions" und des Debüts "Worrisome Heart" muss man als Hörer gänzlich verzichten. Dafür hat sie die Titel so stimmig aneinandergereiht, dass sie einer eigenen Live-Dramaturgie folgen.
Darüber hinaus treiben das polternde Drum-Fundament von Charles Staab und die ausgelassenen Soli von Saxofonist Irwin Hall sowie Bassist Sami Minaie in der kraftvollen Kurt-Weill-Hommage "Goodbye" die US-Amerikanerin zu gesangliche Höchstleistungen an. Ebenso überrascht sie in "Who Will Comfort Me" mit wilden Scat-Einlagen und in "So Long" mit abenteuerlichen Stimm-Verrenkungen zu lateinamerikanischen Sounds. Da sie ihre Auftritte wegen eines schlimmen Unfalls als Neunzehnjährige, der eine dauerhafte Schädigung ihres Rückenmarks und ihrer Nervenzellen im Gehirn zur Folge hatte, unter Schmerzen bestreitet, kann man vor so viel Hingabe auf der Bühne nur den Hut ziehen.
Dennoch erweist sich Stephan Braun, der unter anderem mit der NDR-Big Band regelmäßig zusammenarbeitet, als ein gleichberechtigter Partner an ihrer Seite. Er verleiht ihren intimen und gefühlvollen Nummern wie "Our Love Is Easy" und "My One And Only Thrill" sowie ihrer hinreißenden Coverversion des weltberühmten Judy-Garland-Klassikers "Over The Rainbow" mit seinen melancholischen Cello-Klängen eine ungeahnte Tiefgründigkeit und Intensität, die man von ihren Studiowerken her nicht kennt.
Weiterhin wirft die Musikerin auf den Brettern, die die Welt bedeuten, sämtliche Vorgaben einer Album-Produktion über den Haufen. Ihre Songs dauern bei ihren Liveshows manchmal bis zu einer Viertelstunde. Deswegen stemmt sie sich mit ihrem Organ in der Mitte von "The Rain" selbstbewusst gegen das hektische Bebop-Fundament ihrer Band. "Morning Sun" hält kontinuierlich die Spannung und mündet in einem entfesselten Saxofon-Solo.
Höhepunkt dieser großartigen Live-Best-Of bildet jedoch "March For Mingus". Der Track weist eine markante Bläsersektion auf, die mit ihren schmetternden Einlagen das imposanteste Werk des Kontrabassisten Charles Mingus zitiert: "The Black Saint And The Sinner Lady" von 1963. Am Ende platzt das Stück mit den energetischen Soli der Band und der exzentrischen Gesangs-Performance von Melody Gardot förmlich aus allen Nähten. Über körperliche Grenzen setzt sie sich mit ihrer inneren Stärke hinweg. Mehr Bühnenpräsenz hat nur noch Nina Simone besessen.
Letzten Endes kann man "Live In Europe" zu den ganz großen Live-Alben im Vocal-Jazz zählen. Melody Gardot entledigt sich also auf dieser Konzertscheibe, die sich musikalisch ständig im Fluss befindet, ihrer künstlerischen Fesseln und zeigt sich, wie das Plattencover unmissverständlich andeutet, von ihrer leibhaftigen Seite. Zusätzlich transportiert die dynamische Produktion das lebhafte Geschehen auf der Bühne perfekt ins heimische Wohnzimmer.
2 Kommentare mit 6 Antworten
hehe, der berüchtigte "kubanke 5er; mit vorsicht zu genießen" wird langsam zum hennig/kubanke-5er. finde ich gut
Verdientermaßen. Klasse Band, super Performance, toller Drive. Wirkt alles andere wie eine Zusammenstellung.
Naja, der Kollege Hennig hat sich aber, soweit ich das beurteilen kann, bisher auch noch keinen Luluesken Ausrutscher geleistet. Von daher wird hier erst einmal noch gar nichts. :-P
"lulu" ist großes, wedekindsches avantgarde-theater. da bleibe ich stur.
aber den spieß drehe ich dir um: wenn dir aus 10 jahren rezis für laut.de mit über 1000 texten nur der eine fehltritt einfällt, geht die quote doch mehr als klar
Naja, so einfach ist das ja jetzt auch wieder nicht. Das muss man ja auch im Verhältnis dazu setzen, wieviel dieser Texte ich auch gelesen habe, ja sicherlich nicht alle Tausend.
Aber gut, ist auch unsinnig das weiter auszubreiten. Habe nur eine billige Gelegenheit gesehen den alten Lulu Running-Gag auszupacken und den Herrn Anwalt ein wenig zu piesacken. Gehört hier ja mehr oder weniger zum guten Ton. :-P
klar, der lulu-gag darf nicht verschwinden. schlimm genug, dass lou entschwunden ist.
Bei genauerer Betrachtung vielleicht nicht der erste, sicherlich aber einer der kommerziell einflussreichsten Versuche der redaktionellen Belegschaft, sich endlich eines anderen althergebrachten Vorwurfs der Leser an diese Seite zu entledigen, indem man mit dem bis dahin nahezu konsequent umgesetzten wie stets unausgesprochen gepflegten laut.de-Gesetz, schlechte Musik hier aus Prinzip schlecht zu bewerten, zu brechen begann.
Da bekommen wir also wieder Frau Bardots seltsame Sichtweise von Nacktheit zeigen ohne nackt zu sein präsentiert. Das Filmchen habe ich mir erst garnicht angeschaut, das Cover muss man notgedrungen.
Mir persönlich fehlt "It gonna come", aber bei den Eintrittspreisen das Elend sehen bzw. bei den geladenen Gästen von Angesicht zu Angesicht vom Abdanken und Davonlaufen der Mächtigen zu singen, ist wahrscheinlich problematisch.