laut.de-Kritik

Schlager-Platte im Cowboy-Outfit.

Review von

Wir Deutschen träumen ja seit jeher eine weirde Version des amerikanischen Westerntraums. Man denke alleine an Winnetou-Schöpfer Karl May, der Amerika selbst nie zu Gesicht bekam. Man denke an die Waterkant-Cowboys von Truck Stop, den schwäbischen Johnny Cash Hank Häberle und selbstredend an BossHoss. Sie alle adaptierten die popkulturellen Symptome der Cowboy-Kultur, inklusive lederne Stiefel, breitkrempige Cowboyhüte, wilde Gäule und romantische Einsamkeit. Aber sie blieben allesamt nur Abziehbilder, nur Kopien.

Gleiches gilt für das Hamburger Urgestein Michy Reincke, der dieses Phänomen bereits im Artwork seiner neuen Scheibe "Sie Haben Den Falschen" bis an die Schmerzgrenze überzeichnet und sich selbst als beinharten Cowboy in einsamen Western-Landschaften inszeniert. Diese Oberfläche stellt sich aber schnell als brüchig heraus, als aufgezogene Maske. Reincke versucht mehr als eine bloße Version des ewigen Cowboy-und-Indianer-Country-Musicals: "Das ist Amerika. Matrix des Marktes. Triumph der Moderne vom Nordpol zur Antarktis."

Die vorliegenden Sound-Landschaften sind leider nicht so rau und karg, wie es das Cover vermuten lässt. Der Opener "Ozean" wirkt sogar ziemlich überladen: ein recht klassischer Deutsch-Pop-Song, eine glasklare und total vorhersehbare Power-Ballade. Die ist ja ohnehin längst zum Tatort der deutschen Musikszene, sprich: massentauglich geworden. Immer ähnlichen Motiven folgend. Wenig innovativ. Super erfolgreich.

Auch "Ozean" könnte es sich sicher Radio-Airplay erspielen. Die Produktion, für die Reincke selbst verantwortlich zeichnet, gerät absolut konkurrenzfähig. Zudem stechen auf der gesamten Albenlänge die durchaus pointierten Texte ins Auge, die sich im Gegensatz zum Klangbild nur auf dezent ausgetretenen Wegen bewegen und dabei stellenweise ungewöhnliche Sprachbilder und Satzkonstruktionen finden und erfinden.

Doch lässt dieses Album irgendwie total ratlos zurück. Wohin will Reincke, der das Projekt des Solokünstlers seit Jahren mit massiver Energie und als wirklicher Einzelkämpfer verfolgt, uns führen? Hier passt nichts so richtig zusammen. Inszenierung beißt Sound beißt Image beißt Stimme. Das Mysterium jedenfalls, das sich eingangs andeutete, ist gar keines: "Sie Haben Den Falschen" ist kein staubiges Westernepos, nicht einmal die Klischee-beladene Fantasie-Version davon, sondern viel eher eine Schlager-Platte im Cowboy-Outfit. Dieses Prädikat muss man zumindest Songs wie "Glücklich Glücklich" und "Wenn Du Gehst Komm Ich Mit" einstanzen, die einen ungemütlichen Peter Maffay- bis Selig-Flow in sich tragen.

Aus der Unberechenbarkeit schälen sich ab und an wirklich gelungene Stücke. Etwa das von einem Kurt Weill-artigen Akkordeon eingeleitete "Noah", das die Arche Noah mit einem Hamburger Verweissystem als tieftraurige Hafensängerballade verortet. Wenn Reincke hier über die fliehenden Streicher singt "... wenn die Liebe zum Leben stirbt, dann wie ein großer Fisch in zerrissenen Netzen", dann erinnert das an Sven Regener oder Tom Waits. Toll!

Derartig on point zeigt sich Reincke aber nur punktuell. Als Hörer fragt man sich enttäuscht: wieso? Wieso nicht mehr davon? Wieso keine weiteren komplexen Arrangements? Wieso all dieser stinklangweilige Jazz-Verschnitt? Was hätte das für ein dunkles Album sein können, wenn sich der Protagonist weniger an die gängigen Erfolgsstrukturen angebiedert hätte? Wenn er mehr dezent abgründige Songs wie "Die Frau In Der Die Welt Verschwand" und weniger Tanzbein-Schwinger-Schinken wie "Wir Zertanzen Die Fundamente" geschrieben hätte. Immer, wenn man sich beim Mitfühlen erwischt, antwortet die Platte mit einem wirklichen Rohrkrepierer.

Kreativen Sequenzen und Ideen, wie der vielfältigen Instrumentalisierung inklusive Bläser, Piano und Streicher steht dann urplötzlich christliche Pfadfinder-Romantik oder lästige Weiber-Abschlepp-Schlager-Polemik entgegen. Das nervt! Insgesamt aber ist der norddeutsche Fels in der Songwriter-Brandung mit dieser Platte nicht besonders weit weg von Bestsellern wie Udo Lindenberg, zeigt einiges Licht und viel Schatten. Das haut zwar niemand aus den Socken, stößt aber auch keinen vor den Bug.

Trackliste

  1. 1. Ozean
  2. 2. Glücklich Glücklich
  3. 3. Wenn Du Gehst Komm Ich Mit
  4. 4. Noah
  5. 5. Schöne Seele
  6. 6. Sie Ist Genau Mein Typ
  7. 7. Du Hier So
  8. 8. Wir Zertanzen Die Fundamente
  9. 9. Die Frau In Der Die Welt Verschwand
  10. 10. Hinter Meinen Augen Scheint Die Sonne
  11. 11. Kein Grund Nervös Zu Werden
  12. 12. Gestrandet

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2 Kommentare

  • Vor 7 Jahren

    Japp. Unterschreib' ich. Bin offen enttäuscht von diesem Album. "Noah" und "Die Frau in der die Welt verschwand" rechtfertigen diese Veröffentlichung, aber der Rest wirkt uninspiriert, belanglos, planlos. Mal bewegt er sich verflixt dicht am Eigenplagiat, mal vergißt er um seine eigenen Tugenden. Er hat doch auf den letzten Alben immer wieder bewiesen, wie man auch kommerzielle Musik mit Texten versehen kann, die über Haken und Ösen verfügen, aber hier wollte er anscheinend nicht mehr so richtig. Um das Potential, das in Liedern wie "Wir zertanzen die Fundamente", "Du hier so" und "Gestrandet" schlummert, ist es echt schade. Wenn die Texte trotz einiger wirklich gelungener Ansätze nicht so in ihrem eigenen Quark vor sich hindünsten würden, wär' das echt was für die Visitenkarte. Ich sollte ihm das übel nehmen - er weiß doch, wie man eine Tür öffnet und dann durchgeht, und hier scheut er vor der Türschwelle.
    Ich verbuch's unter "bedauernswerte Ausrutscher" und hoffe auf Besserung.
    Gruß
    Skywise

  • Vor 7 Jahren

    Na da hat aber scheinbar jemand die ganze Trilogie Geschichte der letzten Michy Reincke Alben nicht verstanden. Sagt er doch schon seit 3 Veröffentlichungen, dass es nicht darum geht das Offensichtliche abzubilden sondern regt dazu an sich mit den Werken als Ganzes zu beschäftigen.
    Ich kenne keinen einzigen deutschen Schlager, der soviel Sinn und Geist in den Texten hat wie Michy Reincke in einer einzigen Zeile. Und unter musikalischen Gesichtspunkten ist das Album für Schlagersender auch herzlich ungeeignet - viel zu progressiv! und so herrlich abwechslungsreich.
    Aber da reicht der Geist des Rezensenten offensichtlich leider nur zum Horizont seiner eigenen kleinen Schubladenwelt und zurück. Zu schade, für ihn, wir anderen aber freuen uns über nahrhafte Popmusik für Geist und Seele von Michy Reincke.