laut.de-Kritik

Mehr als die Aneinanderreihung alter Hits: eine eigene kleine Oper.

Review von

"In den ersten Zeilen von 'Green And Grey', der zeitlosen New Model Army-Hymne schlechthin, wartet Mastermind Justin Sullivan am Rande der britischen Kleinstadt auf den Bus. Sein Blick schweift über die grünen Wiesen, den wolkenverhangenen Himmel, und er denkt an die verlorenen Freunde. Natürlich regnet es" lauten die ersten Zeilen unserer Album-Review zum Meilenstein "Thunder And Consolation": Das Alleinstellungsmerkmal der Folk-Rocker ist es, immer mittendrin statt nur dabei zu sein. Ihre spröde, treibende Musik und Sullivans Poesie kennen keine Gnade und ziehen die Hörer:innen immer tief in seine Geschichten.

Mit diesem Merkmal brechen New Model Army auf "Sinfonia". Die Zusammenarbeit mit der langjährigen Weggefährtin Shir-Ran Yinon, die auch Eluveitie an der Violine live unterstützt, und die Arrangements für die Leipziger Sinfonia-Orchester schrieb, kleidet den klassischen NMA-Sound in ein wärmeres, dichteres Streichergewand. Die Band distanziert sich so von der harten Realität ihrer Geschichten.

Die Adaption von "Green And Grey" zum Beispiel entledigt sich jeglichem Lagerfeuer-Feeling und cuttet die normalerweise losbrechenden Gitarren- und Drum-Attacken komplett aus dem Track. Es verbleiben allein Sullivans Stimme und die tragende, wundervolle Arbeit der ViolinistInnen des Orchesters. Sullivans Intensität schmerzt fast körperlich, trotzdem ist etwas anders: Es ist nicht mehr Sullivan selbst, der am Rande einer Kleinstadt auf den Bus wartet, es ist Sullivan, der jemanden, der an diesem Ort zwischen dem Grün drüben auf dem Hügel und der grauen Industriestadt sitzt, beobachtet – wie in einem Film, daneben aber nicht mittendrin.

Auch das ansonsten harte "Winter" verzichtet für die ersten drei Minuten auf jeglichen Beat, so dass Sullivan nicht mehr der Soldat im Krieg ist, sondern eher als Kriegsreporter auftritt. Im letzten Drittel steigert sich der Track dann doch, groovt fast hüftschwenkend statt hart-rockend zum Sieg. Es ist fast, als beschwören New Model Army hier den Sieg der Ukraine und das Ende der Kampfhandlungen.

Es braucht mehrere konzentrierte Albumdurchläufe, bis man sich dieses Effekts, der in fast jedem der Songs spürbar ist, bewusst wird. Erst wenn man alle Erwartungen und alle Erinnerungen abschüttelt, entfaltet sich die Magie von "Sinfonia". Es ist keine Aneinanderreihung von neuen Interpretationen alter Hits, es ist eine eigene kleine Oper, ein kleiner Film, der dank der Arrangements von Shir-Ran Yinon, der erfahrenen New Model Army-Musiker und Sullivan ein neues Kapitel im Buch der Briten aufschlägt, von dem man nicht wusste, dass man es brauchen würde. Alleine wie in der "Overture" die Themen aus "Vagabonds" und "Green And Grey" aufgenommen und mit einem John Williams'schen Star Wars-Vibe verbunden werden, streichelt sofort die skeptische Fanseele.

Vielleicht hilft es im Zugang zu diesem neuen Ansatz auch, dass bis auf die erwähnten Hits viele Klassiker wie "No Rest", "Better Than Them", "51 State", "White Coats", "Poison Street" oder "Stupid Questions" fehlen. Dagegen dominieren Lieder der zweiten Karrierehälfte ab 2000. So eröffnet "Devil's Bargain" vom "Between Wine And Blood"-Album den Reigen mit den bekannten Tribal-Tom-Drums konterkariert von Synthies und weichen, getragenen Streichern. "Devil" vom "Winter"-Werk marschiert mit Gitarren, während sich Sullivan durch den Song kämpft, um im Grande Finale aufzublühen. Das emotionale "Lullaby" vom vergessenen '98er "Strange Brotherhood" ersetzt Bass mit Streichern und mutiert zum Liebeslied.

Es sind meistens nicht die großen Töne, nicht die großen Mitsing-Momente, die "Sinfonia" heraufbeschwört. Gerade im Mittelteil kommen und gehen auch einige neue Versionen ohne Replay-Value. "Sinfonia" ist eben eher eine Oper als ein Album und darf nur im Ganzen konsumiert werden, auch wenn der schönste Pop-Song der Band - "Purity" - durch die Neuinterpretation noch unwiderstehlicher wirkt ("the best song we ever written", yes!) und das unweigerliche "Vagabonds" natürlich den bekannt bombastisch-pathetischen Schlusspunkt setzt.

"Sinfonia" nimmt dieses Pathos, das ihrer Musik stets innewohnte und das in den 80ern von den Hardcore-Punk-Dogmatikern so gehasst wurde, und baut daraus eine Oper, die zwar den Hunger und die realistische Härte früherer Tage missen lässt, aber ihre ganz eigene Sehnsucht entwickelt.

Trackliste

  1. 1. Overture
  2. 2. Devil's Bargain
  3. 3. Devil
  4. 4. Innocence
  5. 5. Winter
  6. 6. March In September
  7. 7. 1984
  8. 8. Orange Tree Roads
  9. 9. Marry the Sea
  10. 10. Ocean Rising
  11. 11. Ballad
  12. 12. Passing Through
  13. 13. Guessing
  14. 14. Too Close To The Sun
  15. 15. Lullaby
  16. 16. Did You Make It Safe?
  17. 17. Shot 18
  18. 18. Purity
  19. 19. Vagabonds
  20. 20. Green And Grey
  21. 21. Wonderful Way To Go

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4 Kommentare mit einer Antwort

  • Vor einem Jahr

    In den meisten Fällen kommt bei Rockbands, die zusammen mit klassischen Orchestern auftreten nichts Gescheites raus. Entweder spielen beide nebeneinander her, wie z.B. bei Metallicas S&M, oder es läuft auf sowohl pathetischen als auch generischen Rock-meets-Classic-Rotz raus.
    Das hier ist tatsächlich anders. Einerseits klingen die Stücke trotz der größeren Instrumentierung sehr homogen, sprich Band und Orchester verschmelzen fast durchgängig zu einer Einheit, und einige Songs (Winter, Innocence, G&G...) erhalten tatsächlich einen anderen, sehr schönen Spin gegenüber der Originalversion.
    NMA sind ohnehin ein Phänomen, und liefern seit über 40 Jahren nahezu beständig Qualität ab.

  • Vor einem Jahr

    Band und Orchester harmonieren tatsächlich sehr gut, nur mach es das nicht spannender. Gerade in Kombination mit einem Orchester sollte sich Musik darauf besinnen durch das Spiel mit lauten und leisen Passagen Emotionen zu wecken und Stimmungen zu erzeugen.
    Das hier plätschert halt genauso wie gefühlt 95% aller modernen Veröffentlichungen aus dem Pop und Rock auf einem Level dahin. Schön für den "Genuss" über Kopfhörer in Bus und Bahn, aber wirklich spannend ist da nichts mehr.
    Etwas wie The Geese and the Ghost würde heute wohl als unhörbar angesehen und nie veröffentlicht werden.
    Da bleibe ich doch lieber bei New Model Army ohne Orchester und freue mich auf die erste Mendelssohn Einspielung von Jordi Savall, die morgen hoffentlich zum Veröffentlichungstermin im Briefkasten liegt.

  • Vor einem Jahr

    Die Band ist natürlich über jeden Zweifel erhaben. Vielleicht hätte man in der Rezension schreiben können, dass es sich hier um ein reines Live-Album handelt.

  • Vor einem Jahr

    Das Album ist sehr gut gelungen. Ich mag oft Cross Over Alben. Viele sind sehr platt gemacht. Dieses hier orientiert sich wirklich an der Klassik ohne die Band zu verbiegen oder zum seichten "nicht gekonnt " klassisch gefärbten Scheibe. Seit langer Zeit ein Album das ich konsequent durchgehört habe.