3. Dezember 2002

"75.000 Robbie-Fans buhten uns aus!"

Interview geführt von

Wird er gesprächig sein, der bärtige New Order-Bassist? Launisch? Träge vom zähen Interview-Marathon? Wird er mich überhaupt anrufen? Das Telefon klingelt zwanzig Minuten nach dem vereinbarten Zeitpunkt: "Hi, hier ist Andrew. Peter fummelt noch an seinem Bass herum, aber er ist gleich da." Tatsächlich hört man im Hintergrund den legendären New Order-Bass brummen und entfernt spielt sogar jemand Schlagzeug. Was ist denn da los, frage ich mich gerade, als sich Peter meldet:

Hello?

Hi, hier ist Michael von laut.de

Hi! Ich tu jetzt mal nicht so als verstünde ich wovon du sprichst ... (lacht)

laut.de ist der Name unseres Online-Magazins.

Oh, wonderful. Wird auch Zeit, diese nervigen Printmedien abzulösen, stimmts?

Richtig so! (Gelächter) Ähm, habe ich dich eben gerade vom Bass-Spielen abgehalten?

Ja, wir sind nach zwei Monaten Urlaub gerade wieder alle zusammen gekommen, um zu jammen. Genau genommen ist heute unser erster Tag. Du hast also gerade die Arbeit an der nächsten New Order-LP unterbrochen. Ich hoffe, du bist wenigstens stolz auf dich! (Gelächter)

Lass uns über euer 4-CD-Boxset "Retro" sprechen. Ist das als Weihnachtsgeschenk an eure Fans nach der regulären Greatest Hits "International" zu verstehen?

Nun, diese Boxset-Geschichte tragen wir nun schon ewig mit uns herum. Denn auf Factory (altes New Order-Label, Anm. d. Red.) wurden nie all unsere 12"es auf CD veröffentlicht. Die Idee des Boxsets war eigentlich, alle Singles mit ihren B-Seiten zu veröffentlichen. Aber wir sind halt Idealisten. Denn als es dann um die Kompilierung ging, merkten wir, dass wir etwa 20 verschiedene CDs benötigt hätten.

Und das Cover-Artwork sollte ja auch noch berücksichtigt werden. Um es kurz zu machen: das ging auf keinen Fall. Als wir dann darüber nachdachten, wie wir die Box wohl für alle interessant gestalten könnten, kam uns die Idee, sie von Fans zusammen stellen zu lassen. Das war sowieso schon mal eine tolle Idee, da wir einfach stinkfaule Säcke sind und die Arbeit so auf andere abwälzen konnten. (lacht)

Wir fragten also vier Leute, die wir über die Jahre kennen gelernt haben, ob sie das für uns machen würden. Zum einen ist das die Fernsehmoderatorin Miranda Sawyer, die auch in der Jury des Mercury Awards sitzt. Sie ist ein großer Fan von uns, kommt zu vielen Gigs und ist eine enge Freundin der Band. Dann sind da noch John McCready und Mike Pickering, die uns ihre Sicht auf New Order verraten. John arbeitete früher im Hacienda Club, Mike war dort DJ. Ihn baten wir natürlich, die Dance-Seite New Orders aufzudecken und Remixes zusammen zu stellen. Und schließlich beauftragten wir unseren alten Freund Bobby Gillespie, die besten Livetracks aufzulisten.

Wie viele Tapes bekam Bobby, um die Live-CD zusammen zu stellen?

Lustiger Weise hatte er selbst eine ganze Menge gesammelt, aber am Ende brauchten wir noch mehr ... Das Problem mit dem alten Zeug ist ja, dass alles auf Kassetten ist, und die sind teilweise gut 20 Jahre alt. Doch glücklicherweise haben wir bei mir zu Hause noch einige Schätze gefunden. Ich führe nämlich meine eigene New Order Bootleg-Collection. (Gelächter)

Hast du schon alle vier CDs angehört?

Ja, alle. Ich war überrascht dass ich einige Sachen auf der Dance-CD noch gar nicht kannte. Teilweise ist es wirklich seltsam. "Temptation" spielen wir zum Beispiel seit Ewigkeiten live. Ich hatte also nie das Bedürfnis, mir die Platte anzuhören. Als ich nun aber nach bestimmt zwölf Jahren den Song wieder hörte, kam mit ihm plötzlich die ganze Atmosphäre der Aufnahme hoch. Bernard nahm damals gerade den Gesang auf und es schneite draußen. Wir anderen gingen raus, kamen mit Schneebällen ins Studio zurück und bewarfen ihn während er sang. Und du kannst es auf der Platte hören. Das habe ich total vergessen, obwohl wir das Stück ständig live spielen. Wahnsinn!

Würdest du dich als nostalgische Person bezeichnen?

Oh yeah, Bernard nennt mich gerne einen alten Melancholiker, da ich oft über die Vergangenheit nachdenke. Ich bin durch einige fantastische und schreckliche Zeiten gegangen, mit der Band und alleine. Das ist eben ein Teil deiner Entwicklung. Es macht Spaß nostalgisch zu sein und sich zum Beispiel alte Bilder anzuschauen. Du machst ständig "Aahhh" und "Ooohhh" und denkst "damals konnten wir den Song noch nicht spielen, jetzt können wir ihn". Das ist lustig.

Ihr veröffentlicht auch eine DVD von dem Konzert in Finsbury Park ...

Sind wir nicht furchtbar produktiv dieses Weihnachten? Der Finsbury Park-Auftritt war einfach fantastisch und es war das erste Mal nach langer Zeit, dass wir wieder in London spielten. Und natürlich pisste es in Strömen. Aber wir waren gut in Form, nimmt man mal den Morgen danach raus, da waren wir natürlich in übelster Form. (Gelächter) Aber die Nacht in Finsbury war einmalig. Weißt du, wir fühlen uns oft so, als hätten wir zwanzig Jahre gebraucht, um zu uns zu finden. Als hätten wir uns erst jetzt richtig gefunden.

Es ist schon ein seltsames Gefühl, nachdem wir so lange weg gewesen sind. Wir schauen jetzt mehr nach den positiven Aspekten von New Order: Factory ist weg, der ganze Hacienda-Stress ist weg und du kannst dich einfach nur entspannen und deine Musik genießen. Und natürlich ist es toll, dass die Fans so lange auf uns gewartet haben.

Ihr habt aber auch neue Fans hinzu gewonnen.

Ich denke schon. Wir sind jedenfalls mit "Get Ready" in Europa erfolgreicher, als wir es in den 80er Jahren gewesen sind. Das ist schon toll, vor allem da wir damals sehr dafür gekämpft haben. Und plötzlich, nach unseren dunkleren Jahren, wie ich sie nenne, haben wir es geschafft. Das ist übrigens auch der Grund für den "International"-Release, denn als 1994 die "Best Of" erschien, haben wir fast keine davon verkauft. Nur in England, deshalb kommt "International" dort auch nicht raus.

Ich habe euch in Berlin 2001 gesehen und war sehr überrascht, gleich drei Joy Division-Songs zu hören.

Ich hoffe, sie haben dir gefallen.

Wie die ganze Show ...

Die Sache ist die: Wenn du eine Weile weg bist, verändert sich deine Sicht auf bestimmte Dinge. Plötzlich waren wir nicht mehr blockiert. Bei einer der ersten gemeinsam Proben fragten wir uns: Warum spielen wir nicht ein paar Joy Division-Songs? Drei von uns sind noch da. Und ich bin mir sicher, wenn auch Ian noch da wäre, hätte er uns gezwungen sie zu spielen. Früher war das immer ein Tabuthema: Joy Division war zu Ende und es musste weiter gehen. Lustiger Weise denken heute einige unserer jüngeren Fans, die mit dem Charterfolg dazu gekommen sind, dass das neue Songs wären. Toll, oder? Wir bringen einfach eine alte Joy Division-Platte raus und die Leute denken wir arbeiten. (Gelächter)

Es ist eine Art von Freiheit. Die Zeiten während der Aufnahmen zu "Republic" waren sehr schwer und im Gegensatz dazu fühle ich mich heute wie eine ganz neue Person. Wenn ich nicht glücklich bin, versuche ich nicht mehr das zu verstecken und gehe mich besaufen, sondern ich sage es einfach. New Order war immer so etwas wie das absolute Ende deiner Existenz. Das hat sich geändert und deshalb macht es uns heute viel mehr Spaß.

Die Berlin-Show war cool. Obwohl Bernard sagte, dass ihr wegen einem Trinkgelage nach der Paris-Show nicht so fit seid. Erinnerst du dich?

Oh ja, oh ja. Das Schöne ist aber, dass wir nun gelernt haben, trotzdem gut zu spielen. (Gelächter) Nur leider haben wir noch nicht gelernt, uns gut davon zu erholen. Es ist eine Menge Stolz dabei, wenn wir heute auf die Bühne gehen. So blöd das klingen mag: du willst dir den Abend nicht mit irgendwas verderben, weil du auf der Bühne wirklich Spaß haben willst. Wenn du dann aber von der Bühne runter kommst, was meistens so gegen zwölf Uhr ist, sind alle anderen erledigt und jeder will heim. Dabei wollen wir loslegen! (schreit) "No fucking, come on, wir wollen raus gehen und einen drauf machen." Verstehst du? Am nächsten Morgen ist es dann wie ein Jetlag, wir nennen es Drinklag. Vielleicht sollte ich mal ein Buch drüber schreiben.

Warum habt ihr den Support für Robbie Williams in Köln gespielt?

Die deutsche Plattenfirma machte uns das Angebot. Als Robbie Williams hörte, dass wir daran interessiert sind, fragte er uns persönlich, da er ein großer New Order-Fan ist. (schmunzelt) Wir hatten vor zehn Jahren schon mal so eine Anfrage von George Michael. Aber wir dachten damals, dass sein Publikum New Order nicht schätzen würde, obwohl er selbst es tat. Er bot uns einen Haufen Kohle an, aber wir konnten uns trotzdem nicht durch ringen. Als Robbie anfragte, waren wir auch wieder beunruhigt.

Doch dann meinte unser Agent – Gott hab ihn selig – Robbie Williams würde in Deutschland weit rockiger wahrgenommen als in England. Also glaubten wir ihm ... (lacht) Wie eine Horde Vollidioten. Wir sind also da raus gegangen und haben uns von 75.000 Zuschauern ausbuhen lassen. Es war ein sehr junges Publikum, ein Pop-Publikum und wir kamen überhaupt nicht an. Aber weißt du, das Leben ist voller Herausforderungen. Ich habe Ash und JJ72 auf dieselbe Weise baden gehen sehen. Es machte keinen Unterschied. Es war nichts persönliches. Aber es amüsiert mich schon, wenn 14-Jährige vor der Bühne stehen und (verstellt die Stimme) "Wichser, Wichser" schreien. (Gelächter) Sehr interessant. Du willst am liebsten hingehen, ihnen eine runterhauen und sie heimschicken.

Wie fand Robbie euren Gig?

Unser Set war beinahe am Ende, da ging ich zu Barney rüber und sagte "Fuck, das wars hier". Robbie stand am Bühnenrand. Er kam kurz zu Barney und mir und meinte nur: "Gut gemacht, Jungs! Wir stehen das gemeinsam durch!" (Gelächter)

Manche Zuschauer dachten bestimmt auch, dass ihr mit "Bizarre Love Triangle" eine Coverversion der deutschen Band Commercial Breakup gespielt habt.

Oh shit. Ja, davon habe ich schon gehört. (lacht)

Habt ihr den Erfolg von "Get Ready" in irgend einer Form geahnt?

Nein. Aber es ist ein tolles Kompliment, gerade weil wir so hart an der Platte gearbeitet haben. Ich bin von Natur aus ja eher schüchtern, obwohl ich auf der Bühne ziemlich extrovertiert rüberkomme. Genau wie Bernard und Steven. Wir hofften einfach, die Platte würde ganz gut laufen. Mit so einem Erfolg konnte keiner rechnen.

Also steht New Order eine große Zukunft bevor.

Ja, mein Herz und meine Seele hängen in dieser Band. Die letzten zwei Jahre waren eine großartige Zeit. Ich meine, ich bin hier. Und hier bleibe ich auch, bis die Fucker mich rausschmeißen.

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